S I N G E N – (Auf-) Gabe – Kraftquelle - Freude
Dienstagabend, viertel vor acht. Schon seit einiger Zeit strömen die SängerInnen der Kantorei zur Chorprobe ins Bonhoeffer-Haus: die Oberärztin, der Student, der Direktor, die Lehrerin, der Hausmann, …. Manche kommen 
direkt von der Arbeit und verzehren schnell noch einen Apfel. Woche für Woche kommen sie aus der ganzen Stadt Münster, aus Emsdetten, Marl, Havixbeck, Warendorf, Telgte, bei Frost oder Hitze, Glatteis oder Regen zur Probe. Mitgebracht haben sie ein blaues Notenheft: J.S. Bach: Messe in h-Moll, 240 Seiten dick.
Der Ablauf der Probe ist fast immer gleich: Nach den Einsingeübungen werden Teile der Messe geübt. Das ist ein langer, mühsamer Prozess: 100 Menschen müssen zunächst den Alltag mit all seinen Anstrengungen und Sorgen hinter sich lassen, müssen ihre Rolle als Bankerin, als Mutter, als Heimleiter abstreifen. Hier ist nicht Individualität, oder Durchsetzungsfähigkeit gefragt, sondern das Gegenteil: Integrationsfähigkeit, Gemein-schaftsgeist, die Bereitschaft, Teil eines Ganzen zu sein, bzw. zu werden.
Alle müssen zunächst einmal die Noten beherrschen, dann die Stimmtechnik: eine Notenfolge in bequemer Mittellage ist leichter zu bewältigen als in extrem hoher Lage; bei lautem Singen ist es leichter, die Tonhöhe zu halten, als bei leisen Passagen; und schliesslich wird erwartet, dass alle gleichzeitig anfangen und dass man niemanden heraushört. Manche lernen schnell, manche langsamer. Jede Stelle wird kommentiert und im nächsten Schritt korrigiert: zu hoch, zu tief, zu schnell, zu langsam, zu laut, zu leise, zu unterschiedliche Vokalfärbungen, ganz abgesehen von falschen Noten, Vorzeichen oder Textsilben.
Man könnte meinen, dass das alles sehr anstrengend ist. In der Tat, das ist es auch. Aber, offenbar gibt es Gründe, warum so viele so gern singen und Anstrengungen und Opfer auf sich nehmen, denn Geld bekommen sie nicht dafür, im Gegenteil: Konzertkleidung, Noten, Kosten für das Probenwochenende und die Fahrtkosten zu den Proben müssen aus eigener Tasche bezahlt werden. 
Beim Singen wird der ganze Mensch gefordert, mit Körper, Seele und Geist.
Über das vegetative Nervensystem erzeugt Musik Reflexe, die Atmung, Kreislauf und Verdauung anregen. Spannung und Entspannung der Musik führen zu entsprechenden Reaktionen der Muskeln und schließlich zu Wohlbefinden. 
Rationale Gehirnfunktionen treten in den Hintergrund. Dabei scheint die linke Gehirnhälfte zur Ruhe zu kommen. Singen und gleichzeitig Nachdenken ist nicht möglich. Daher finden sich viele Akademiker in unseren Reihen: beim Singen lässt sich offenbar gut abschalten. Statt des Denkens haben Emotionen Raum zur Entfaltung.
Trotzdem ist der Geist genügend gefordert: neben der Beherrschung der No-ten und der Interpretation ist Singen kunstvolles Tun. Es fordert und fördert die produktive Kraft des Menschen, es benötigt die Fähigkeit und den Wil-len, etwas zu gestalten. Der sinnliche Reiz, den das Hören oder das Lesen von Noten (aufgrund der gemachten Hörerfahrungen) auslöst, bewirkt bei den SängerInnen einen Prozess geistiger und emotionaler Auseinanderset-zung: 
sie möchten die Musik mit der eigenen Stimme für sich selbst und in Gemeinschaft mit anderen, nachgestalten, zu Leben erwecken, sich zu eigenen machen.
Manche SängerInnen sagen „Das Singen ist für mich Therapie“. In der Tat hat das Singen auch therapeutische Funktion: Gefühle freisetzen und aus-drücken lernen, sich selbst wahrnehmen, Fähigkeiten weiterentwickeln, Selbstbewusstsein stärken, Gemeinschaft praktizieren, Integration finden. 
Auch in der Bibel gibt es eine Geschichte über die heilende Wirkung von Musik: König Saul litt an Depressionen, die durch Davids Harfenspiel gelindert wurden (1 Sam 16, 14-23). Für viele unserer SängerInnen ist Singen auch Verkündigung. Dazu gehören Lob und Dank, Klage und Trauer, Zwei-fel und Zuversicht. Persönliche Anlässe unserer Mitglieder wie Geburt, Geburtstag oder Trauung, Krankheit, und Tod, oder Politische Ereignisse wie der Ausbruch des Golf- oder des Irak-Krieges, des 11.September 2001 werden mit entsprechenden Stücken in die Proben integriert. 
Das gemeinsame Singen befreit, verbindet, stärkt mehr als Worte es vermögen, ob in der Probe, im Gottesdienst im Konzert. So dient das Singen der Ehre Gottes und der Freude der Menschen gleichermaßen . 

S.D.G. Klaus Vetter, Kantor