Stadtpredigt vom 05.06.2006 in der Apostelkirche
zu Dietrich Bonhoeffer
von Günter Ebbrecht

Dietrich Bonhoeffer

Vor sechzig Jahren, am 9. April 1945 wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg erhängt. Die bewußte Beteiligung am Widerstand gegen Hitler endete für ihn den Aufrichtigen, Rechtschaffenen und zutiefst Geradlinigen mit einem entwürdigen Tod. Einst, so schreibt er aus dem Tegeler Gefängnis, wo er wegen Wehrkraftzersetzung gefangen genommen und verhört wurde, habe er mit einem jungen französischen Pfarrer gesprochen. Sie hatten die Frage erörtert, was sie mit ihrem Leben erreichen wollen. Der junge Franzose sagte: ‚Ich möchte ein Heiliger werden‘. Das habe ihn, so schreibt Bonhoeffer am 21.7.1944 seinem Freund Eberhard Bethge, damals Soldat in Italien, tief beeindruckt. Er habe wiedersprochen: ‚Ich möchte glauben lernen.‘ Protestantische Besonderheit, Bescheidenheit oder Selbstüberschätzung? Bon­hoeffer fügt im Brief aus der Gefängniszelle selbstkritisch hinzu: „Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben ler­nen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte.“ (WE 1.Ausg. S. 183). 

Dietrich Bonhoeffer, der vor fast hundert Jahren, am 4.2. 1906 in Breslau als Zwilling seine Schwester Sabine und als 6. von 8 Geschwistern geboren wurde, wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf. Sein Vater war Psychiater, hatte sich jedoch mit der Psychoanalyse Freuds nicht anfreunden können. Zu intim war diese; zu nahe jenen unergründlichen Schattenseiten und Tiefenschichten, die einmal ent­fesselt, nicht mehr zu bändigen sein könnten. An der Klarheit des Willens und Ver­standes, des Gehirns suchte er anzuknüpfen. Distanz gegen voyeuristische Intimität wahrt Menschlichkeit. Wenn sich noble Distanz mit Bildung und Pflicht verbindet, schützt dies vor der Glorifizierung des ‚Aufstands der Massen‘ und sichert vor der unbändigen Herrschaft des Pöbels. Das hindert die Familie nicht, leidenden Men­schen nahe zu sein und christlich – humanistisch zu leben. Es ermöglicht ihr jedoch, das Vulgäre zu spüren und politischen Populismus zu durchschauen. 
Dietrich Bonhoeffer ist in einer disziplinierten und kultivierten Familie zusammen mit vielen Geschwistern und deren Freundinnen und Freunden groß geworden. Mit preußischen Tugenden, idealistischen Bildungszielen und im republikanischen Geist wächst er auf. Und fällt doch aus der Rolle, als er Theologie studiert und sich der neuen Richtung der dialektischen Theologie anschließt. In ihr begegnet er der Radi­kalität Gottes, dem ganz Anderen, dem ‚Heiligen‘, Faszinierenden und Erschüttern­den. Durch sie lernt er das eigene unruhige Herz und die Gefahrdung der Sünde er­kennen aber auch das Mitleiden und die Barmherzigkeit Gottes schätzen. Reflek­tierte Emotionalität und empathische Intellektualität bestimmen seine theologische Existenz: den Menschen nahe, klar in seinem Verstand und gewissenhaft in seinem Tun. Die Liebe zur Musik, sowohl zur Klassik wie zu den heißen Rhythmen der Schwarzen zeigt dieses. 

Wie schrieb er am 21. Juli 1944 – einen Tag nach dem gescheiterten Attentat Stauf­fenbergs auf Hitler - „Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so et­was wie ein heilige Leben zu führen versuchte.“ Dies erinnert an die Zeit des ge­meinsamen Lebens im Finkenwalder Predigerseminar. Doch jetzt – 1944 bekennt er – „Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, et­was aus sich selbst zu machen  - sei es einen heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Dies­seitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfah­rungen und Ratlosigkeiten leben, - (wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich selbst zu machen ), dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube... und so wird man ein Mensch, ein Christ.“ (WuE a.Aufl. S. 183). 

Dietrich Bonhoeffer ergänzt: er sei dankbar, dieses erkennen zu dürfen auf dem Weg, den er gegangen ist. Dazu gehört ein Jahr zuvor eine einschneidende persönli­che Wende. Es ist der ‚Haftschock‘. Die tiefe persönliche Krise folgt einer anderen ebenso tiefgreifenden Kehre, als er den Weg angestrebter Gewaltlosigkeit im Sinne Mahatma Ghandis und seine Vision eines großen ökumenischen Konzils des Frie­dens zurückläßt, um in die Abwehr der Wehrmacht und in den Widerstand einzutre­ten und um damit in das Zwielicht der Existenz eines ‚Doppelagenten‘ einzutauchen. Im Oktober 1940 beginnt er, seinen gesinnungesethischen Ansatz der Bergpredigt zu überdenken, um Schuld zu übernehmen und verantwortliche Tat zu wagen. Mit den Titeln seiner theologischen Schriften gesprochen: von der ‚Nachfolge‘ zur unvollen­det gebliebenen ‚Ethik‘. 

Die Folge seines Wirkens im Widerstand ist die Verhaftung. Die damit verbundene persönliche Krise ist eine Isolation der ersten Tage und Wochen in der Tegeler Ge­fängniszelle. Er, der Lesehungrige, ist ohne Lektüre. Er, der Gemeinschaftsmensch, ohne Geselligkeit. Er, der Pianist, ohne Instrument. Zwar wußte er, der die klösterli­chen Traditionen für den Protestantismus zu beerben suchte und der diese  im Pre­digerseminar in Finkenwalde zu leben versuchte, wie glaubensstärkend Einsamkeit und Wüstenerfahrung sein kann. Doch in eine stinkende Zelle, bar jeder gewohnten Hygiene, gesperrt zu werden, umgeben von den Flüchen, Wutausbrüchen, Winseln und Stöhnen der Mitgefangenen, ist demoralisierend, wirkt tödlich. Die gebildete Schutzhaut vor dunklen Emotionen ist porös geworden. Zudem zermürbt die Unsi­cherheit über den Grund der Verhaftung. Was weiß die Gestapo von ihm und von der Verschwörung gegen Hitler? Was sagen die anderen Inhaftierten der Widerstands­gruppe? 

In einer fast nüchternen Reihung von Substantiven der Befindlichkeit spüren wir im­mer noch sein Niedergeschlagensein. Hören wir, was er im Mai 1943, wenige Wo­chen nach seiner Verhaftung am 5. April auf die Rückseite eines Meldeblockzettels schreibt:

(Lesung: Zettel von einem Meldeblock der Tegeler Wachstube)

Kontinuität mit der Vergangenheit und Zukunft unterbrochen 

Unzufriedenheit 
Gespanntheit
Ungeduld
Sehnsucht
Langeweile
Krank
tief einsam
Gleichgültigkeit
Beschäftigungsdrang, Abwechslung, Neuigkeit
Stumpfheit, Müdigkeit, schlafen – dagegen Ordnung
Das Phantasieren, Verzerrung der Vergangenheit und Zukunft

Selbstmord, nicht aus Schuldbewußtsein, sondern weil ich im Grund schon tot bin, Schlußstrich,

Fazit.

Ist das Gedächtnis besser für erfreuliche Eindrücke? Woran liegt das? Ein vergangener Schmerz steht unter dem Zeichen seiner Überwindung, nur un­überwundene Schmerzen (unvergebene Schuld) sind für das Gedächtnis im­mer frisch und quälend.

Überwindung im Gebet

Was Dietrich Bonhoeffer als inneres Empfinden äußert, reflektiert zugleich Allgemei­nes. Es wird zur Chiffre für den Zivilisationsbruch durch die Nazi’s. Die Kontinuität der Geschichte ist unterbrochen. Eine Kluft ist aufgerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Da die Humanität der Weimarer Klassik und dort einen Steinwurf weit das grundlose Morden im KZ Buchenwald. 

Das Empfinden vom Zerbrechen der Zeit, von der Zerstörung des Sinns seines Lebens und vom menschenverachtenden Mißbrauch eines eigentlich kulturell gebilde­ten Volkes, das Scheitern aller Widerstandsbemühungen schlägt ihn nieder. ‚Selbst­mord...weil ich im Grund schon tot bin. Schlußstrich‘. 
Was vermögen Christen, Humanisten, Sozialisten, Demokraten gegen die Men­schenverachtung, wenn das Volk jubelt und wenn der militärische Erfolg dem Staatsterror Legitimität zu verschaffen scheint? 

Zuletzt ein Ausblick, ein Lichtblick in stinkender Zelle: Überwindung im Gebet. 

Beten ist eine Haltung und ein Tun, das sich persönlich in die eigene Offenheit und Ehrlichkeit und zugleich in die Macht eines Größeren, in die Mächtigkeit Gottes hin­ein begibt. Im Brief vom 21.7.1944, als es um das ‚Glauben lernen‘ geht, heißt es: ‚Dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.‘ 

Den Haftschock bewältigt Dietrich Bonhoeffer, weil er seine seelsorgliche Aufgabe im Gefängnis entdeckt, in seinem Gefängniswärter einen ihm zugewandten Menschen findet, über Besuche und Briefe mit seiner Verlobten, seiner Familie und seinem Freund verbunden ist und weil er die Bibel und die Romane des 19. Jahrhunderts neu entdeckt.

Ein Jahr später, im Mai 1944 formuliert Dietrich Bonhoeffer einige Zukunfts - gedan­ken zum Tauftag des ältesten Sohnes seiner Nichte Renate und seines Freundes Eberhard Bethge’s.  Er benennt das Zeitbewußtsein, das seinem momentanen Le­bensgefühl entspricht. Es ist der geschichtliche Kontext, dem sich zukünftig Theolo­gie stellen muss:

„Wir sind aufgewachsen in der Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, der Mensch könne und müsse sein Leben selbst planen, aufbauen und gestalten, es gebe ein Lebensziel, zu dem der Mensch sich zu entschließen und das er dann mit ganzer Kraft auszuführen habe und auch vermöge. Es ist aber unsere Erfahrung geworden, daß wir nicht einmal für den kommenden Tag zu planen vermögen, daß das Aufge­baute über Nacht zerstört wird und unser Leben im Unterschied zu dem unserer Eltern gestaltlos oder doch fragmentarisch geworden ist.“ (WuE n.Ausg. S. 324). 
Bonhoeffer ist in der Zelle elementar bewußt geworden, dass sein Leben fragmenta­risch ist, zersplittert und aufgesprengt wie das Leben vieler seiner Freunde und Freundinnen. Es gibt Fragmente, die auf den Kehrichthaufen der Geschichte gewor­fen werden; es gibt aber auch Fragmente, in denen die Vollendung wie in einem Torso geahnt werden kann oder rückblickend wie in einer Ruine vorhanden war. Er schreibt seinen Eltern am 20.2.1944, dass es in ihrer Generation und Zeit noch mög­lich gewesen ist, das eigene Leben im Beruflichen und Persönlichen voll zu entfalten, so dass es zu einem „ausgeglichenen und erfüllten Ganzen wird.“ Das ist in seiner Generation, die durch den Zivilisations- und Geschichtsbruch hindurchgehen muss, verloren gegangen. Seine Generation empfindet das Unvollendete, das Fragmentari­sche ihres Lebens besonders stark. Es gibt kein heiliges, vollkommenes und vollen­detes Leben mehr. Ist das das Ende? Nein, ein neuer Anfang, auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen zu sein. „...und ich denke, das ist Glaube.“ (WE a. Ausg. 183).

So formuliert der, der Glauben in der unverschuldeten Gefangenschaft neu lernt: „Aber gerade das Fragment kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen....Wenn auch die Gewalt der äußeren Ereig­nisse unser Leben in Bruchtücke schlägt, wie die Bomben unsere Häuser, so soll doch möglichst sichtbar bleiben, wie das Ganze geplant und gedacht war, und min­destens wird immer noch zu erkennen sein, aus welchem Material hier gebaut wurde oder werden sollte.“ (WE n Ausg. S. 242). Als Beispiel erinnert er dazu an Bachs fragmentarisches Spätwerk: ‚Die Kunst der Fuge‘. „Wenn“, so schreibt er etwas spä­ter, „unser Leben auch nur ein entfernter Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiede­nen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so dass schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: ‚Vor Deinen Thron tret ich hiermit‘ – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“ (WE n. Ausg. S. 246). 
In der Verarbeitung des ‚Haftschocks‘, der erzwungenen Isolation und Einsamkeit, wo Selbstmord und Schlußstrich sich als Ausweg andienen, um der zerfallenden Welt zu entfliehen, schaut der Sohn eines Psychiaters in die tiefe Gespaltenheit sei­nes Selbst. In biografischer Rede verdichtet Bonhoeffer die Grundfrage des moder­nen, des neuzeitlichen Menschen nach Identität in zerrissener Welt: Wer bin ich?

(Lesung des Gedichtes: Wer bin ich?)

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und Stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum, Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

So fragt der Mensch und Mitmensch Bonhoeffer in der Zelle im Tegeler Gefängnis. Das Gedicht zeigt uns die Außensicht, geprägt und bestimmt von seinem Elternhaus, von seiner großbürgerlichen Herkunft und vom Milieu des pommerschen Adels. Es offenbart zugleich die Innensicht, wie sie auf dem Blockzettel vom Mai 1943 auf­blitzte. Der freie Fluß der Sprache, einmal in der strengen Komposition der ersten drei Strophen – der Außensicht - und dann in dem Ausufernden, sich Verzettelnden der vierten Strophe – Innensicht - wird zuletzt konzentriert in einem gereimten Zwei­zeiler: 

„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. 
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin, o Gott.“ 

Die vermisste Mitte im Gespaltensein, in den Fragmenten seines Lebens ist Beten. Wie hieß es am Ende auf dem Blockzettel: ‚Überwindung im Gebet‘. 

Vor ‚Wer bin ich?‘ hat Bonhoeffer er Eberhard Bethge seine Beobachtungen von sei­nen Mitgefangenen mitgeteilt. Wenn Flugzeuge kommen, sind sie nur Angst. Wenn es etwas Gutes zu essen gibt, nur Gier. Wenn ein Wunsch nicht erfüllt wird, ver­zweifelt. Sie sind das Jeweilige ganz und gar. Sie scheinen das Frühere vergessen zu haben. Damit, so Bonhoeffers Deutung, gehen sie an der Fülle des Lebens und an der Gesamtheit eigener Existenz vorbei. Bruchstückhaft, kontinuitätlos und ge­schichtsvergessen verläuft ihr Leben. Es gibt, „so wenige Menschen ..,die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen.“ (WE nA. S. 340). 
„Demgegenüber stellt uns das Christentum in viele verschiedene Dimensionen des Lebens zur gleichen Zeit; wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen – wir bangen...um unser Leben, aber wir müssen doch zugleich Gedanken denken, die uns viel wichtiger sind als unser Leben...Das Leben wird nicht in eine einzige Dimen­sion zurückgedrängt, sondern bleibt mehrdimensional – polyphon. Welch eine Be­freiung ist es, denken zu können und im Gedanken die Mehrdimensionalität auf­rechtzuerhalten...Man muss die Menschen aus dem einlinigen Denken herausreißen – gewissermaßen als ‚Vorbereitung‘ bzw. ‚Ermöglichung‘ des Glaubens, obwohl es in Wahrheit erst der Glaube selbst ist, der das Leben in der Mehrdimensionalität er­möglicht und uns also auch diese Pfingsten trotz Alarmen feiern läßt.“ Geschrieben am 29.5.1944. ( WE n. Ausg. S. 340). 

Die innere Pluralität im Glauben lehrt, die äußeren pluralen Welten wahrzunehmen und zu verstehen. Bonhoeffer und mit ihm seine Zeitgenossen, auch wir noch in der Postmoderne und in einer multikulturellen Weltgesellschaft, müssen an der Unüber­sichtlichkeit und der Patchworkidentität nicht verzweifeln. In der Mehrdimensionalität unseres Lebens erkennt Bonhoeffer die Möglichkeit evangelischer und republikani­scher Freiheit, die durch den äußeren Totalitarismus und Faschismus, durch Gleich­schaltung aber auch durch einen weltblinden bürgerlichen Idealismus gefesselt wurde. In der Verunsicherung, sich in sich selber und in seiner Mit – und Umwelt nicht mehr orientieren zu können, liegt die Möglichkeit der freien verantwortlichen Tat. Wenn wir nicht selber unsere Lebensfragmente  zusammenhalten müssen, son­dern Gott sie zusammehält dann sind wir frei, Abstand zu nehmen von allem, was uns fremdbestimmen, vereinnahmen, gleichschalten oder verdummen will. (vgl. in Nach zehn Jahren, Von der Dummheit). Kein Heiliger zu werden sondern Glauben zu lernen, bedeutet, in den diesseitigen Fragmenten das gute Wirken Gottes zu ahnen und aufzuspüren. Die Unübersichtlichkeit der Zeit wird deutbar im Licht der Zukunft Gottes, zusammengefügt in einem hoffnungsoffenen und verantwortungsvollen Leben. 

Diesen Weg evangelischer Freiheit, die das fragmentarische Leben und eine mehr­dimensionale – polpyphone Lebensweise bejaht, beschreibt Bonhoeffer paradoxer­weise in der Gefangenschaft. In äußerer Unfreiheit findet er Freiheit. Dieser Weg ist nicht eben, nicht geradlinig, nicht risikolos. Es ist der Weg, glauben zu lernen, sich in  wagemutiger Offenheit Gott in die Arme zu werfen, ohne dabei Mündigkeit aufzuge­ben. Nach dem Scheitern des 20. Juli 1944 schreibt er „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“. Dieses Gedicht ist Resumee gelebter Theologie und geglaubten Lebens. 

Für ihn, der in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus mit Kultur und Disziplin, mit Pflichtbewußtsein aber auch getragen von geselligem Tun aufgewachsen ist, steht die ‚Zucht‘ am Anfang des Weges zu Freiheit. Zielstrebig und distanziert, kultiviert und diszipliniert kann sich das Geheimnis der Freiheit eröffnen und bewahrt werden – gegen den Aufstand des Pöbels und einen erfolgverwöhnten Populismus. 

Doch Disziplin, zumal wenn sie als Befehlsgehorsam im Sinne Eichmanns und vieler anderer KZ-Wächter mißbraucht wird, kann fesseln. Der Mensch verliert sich in der puren Pflichterfüllung und in Selbstverwirklichung. Er wird zum Sklaven des allge­meinen ‚Man sagt oder man tut‘, aber auch des edleren: ‚Du sollst‘ und ‚Du mußt‘. Erst im Hinaustreten aus der Welt weltvergessener Theorien und aus fundamentalem Prinzipienbewußtsein liegt Freiheit. ‚Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.‘ Bonhoeffer ist mit dem Entschluss zu einem lutherischen pecca fortiter – eines ‚Sün­dige tapfer‘ – im Widerstand und Tyrannenmord aus dem Vagen seines moralischen Denkens herausgetreten in „den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen.“ Es ist nicht die Tat an und für sich, die die Knoten durch­schlagenden politischen Entscheidungen, sondern die Tat, die sich Gottes Gebot stellt und vor Gott und der Geschichte sein Tun und Lassen verantwortet. 

Die freie verantwortliche Tat und die damit verbundene Schuldübernahme führt Bon­hoeffer in Isolation, in Gedanken des Selbstmordes, in die Ohnmacht. Die Tat des Widerstandes enthält jetzt Momente der Ergebung. Die nächtlichen Stimmen in Te­gel, die im Stöhnen und Schluchzen, im Kämpfen und im Schweigen durch alle Türritzen zu ihm dringen, sagen ‚Leiden‘. 

„Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände sind dir gebunden. Ohn­mächtig, einsam siehst du das Ende deiner Tat.“ Er ist mitten drin im ‚Glauben lernen‘: „Dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.“ Ich bin Fragment und darf es sein. Mein Leben muss ich nicht selber vollenden, muss es nicht heil und ganz machen. Ich kann aktiv passiv sein, mich zu einem Empfangenden machen, von Gottes ge­halten aufrecht gehen.

So gelangt Dietrich Bonhoeffer zur letzten Stufe auf dem Weg zur Freiheit.  Parado­xer Weise vollendet sich Freiheit dort, wo anscheinend aufgehoben wird: im Tod. „Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. Sterbend erken­nen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“ Freiheit, die menschlich macht und sich aus tiefstem Grund selber zu begrenzen versteht, gründet in einer letzten, schlechthinnigen Abhängigkeit. Sie findet ihren Ursprung und ihr Ziel in Gott. ‚Wer sich selbst verliert, wird sich gewinnen.‘ ‚Diese Wahrheit wird euch frei machen.‘

(Wir hören wir abschließend „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ )

Stationen auf dem Weg zur Freiheit

Zucht

Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, daß die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen,
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht. 
Tat

Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.

Leiden

Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig und einsam siehst du das Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hände und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende. 

Tod

Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsers vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
daß wir endlich erblicken, was uns hier zu sehen mißgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst. 

Günter Ebbrecht