Stadtpredigt vom 19.06.2005 in der Apostelkirche
zu Friederike Fliedner
von Hanni Berthold

Friederike Fliedner

Liebe Gemeinde,
über Friederike Fliedner predigen. Das Leben, die Biografie einer Frau als Grundlage einer Predigt. Kein Text. Zumindest kein biblischer.
Doch wer weiß.
Menschen werden geboren und machen jede und jeder einen neuen Anfang. Menschen bilden nicht einander ab, auch wenn sie sich manchmal ähnlich sehen, sondern sie sind jede und jeder Gottes Abbild. Sie sind diejenigen, die etwas Eigenes, etwas Neues in die Welt bringen, eine neue Facette Gottes zeigen. Sie sind Gottes Text.

Also auch ein guter Grund für eine Predigt. Friederike Fliedner allemal.
Ich weiß nicht, ob Sie viel von ihr wissen. Oder ob Sie nur ihren Namen kennen. Doch das ist eigentlich nicht wenig. Denn der steht ja für ein Ganzes. Für das Bild einer neu entstehenden Gemeinschaft und einer sich neu entwickelnden weiblichen Beruflichkeit, geprägt von den Begriffen Diakonisse und Mutterhaus.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht. Ob Sie dankbar sind, dass es diese Form des Lebens und Arbeitens gibt, weil Sie sich keine bessere vorstellen können, wie es jüngst eine Betheler Diakonisse im Rückblick auf ihr Leben gesagt hat.

Oder ob Sie die Skepsis teilen, mit der diese Begriffe heute oft versehen sind. Und geradezu ein Lächeln spüren, das vielen von uns angesichts dieses Frauenbildes auf die Lippen kommt. Und mit dem wir uns unserer Sicht der Dinge vergewissern.

Oder ob Sie neugierig sind, wie es denn gewesen sein mag. Wer sie denn war, diese Friederike Fliedner, geb. Münster, die sich sicher nicht hätte vorstellen können, dass wir heute hier über sie nachdenken. 
Heute - das meint unseren Abstand zu jener Zeit am Beginn des 19. Jahrhunderts, als so vieles in der Gesellschaft in Bewegung geriet. Als das Bürgertum sich zur bewegenden Kraft der Epoche herausbildete. Und mir scheint, wir wissen auch mehr von der bürgerlichen Seite des Lebens der sog. Biedermeierzeit, von den sanften und engelgleichen Frauen (die ja hier in Münster vor einigen Jahren zu sehen waren) und überhaupt von den patriachalischen Idealverstellungen von Frauen- und Männerrollen. Sie erinnern sich: Nach dem Muster der Ergänzung von Natur und Geist, von innen und außen, Haus und Welt, Handarbeit und Kopfarbeit sollten sich Frau und Mann zu einer ideal funktionierenden Ganzheit fügen. 

Die andere Seite jener Zeit: Es gab eine Bevölkerungsexplosion, dazu eine unglaubliche Verarmung und wachsende soziale Not als Kehrseite des Fortschritts und der damit verbundenen wirtschaftlichen Veränderungen in der aufkommenden Industrialisierung. 
Und es gab die religiöse Erweckungsbewegung, auch als eine Antwort auf die soziale Verelendung.

Heute – das meint also, dass wir uns auf eine Zeit beziehen, die lange vorbei ist, und doch noch gegenwärtig ihre Nachwirkungen hat. Und vielleicht ist das, wofür Friederike Fliedner steht, geradezu eine eine heiße Spur, um von solchen Verbindungen etwas zu entdecken. Wenn wir heute hier über sie nachdenken.
Hier - das meint, hier in Münster, das gerade die 200 Jahre des hier gelebten Protestantismus vergegenwärtigt und gefeiert hat – als Stadt und vor allem als evangelische Kirche, als Gemeinden, im Blick auf die je eigene Geschichte und Gegenwart, zu der ja auch ein Friederike-Fliedner-Haus gehört. Und ein Diakonissenmutterhaus. Hier - das meint die schöne Apostelkirche als Ort evangelischer Vergewisserung, als Erinnerungs- und Fixpunkt unseres Glaubens und unserer Kirchlichkeit. 
Wir heute hier – das meint uns auch als einzelne, die sich zu einem vorabendlichen Gottesdienst an einem Sommersonntag eingefunden haben. Mit Erwartungen, mit Wünschen, mit Lust auf Begegnung miteinander und - mit Friederike.
Ich lade Sie ein, in vier Abschnitten diese Begegnung zu suchen.
I.  leben und glauben

O Gott, aus deiner Fülle empfangen wir Gnade um Gnade. Du ließest mich in deiner Kirche geboren werden. Früh hörte ich deinen Jesus nennen, ja, lernte ihn lieben... Herr, gib mir die feste Gewissheit in meine ringende Seele, dass du mir gnädig bist... Herz, höre deinen Herrn. Gib dich ganz so, wie du bist. Er wird aus dir machen, was er will. Du bist der Ton, er ist der Töpfer. Wir sind das Werk seiner Hände... Du Arzt meiner Seele, heile mich. Mach mich los von mir selbst, dass ich zu dir kommen kann. Ich habe keine Ruhe ohne dich.
Bezeichne mich mit dem Zeichen, das du den Deinen an die Stirn schreibst, damit mir nichts schaden könne...
Und groß geschrieben: Ich bin dein, du bist mein, du bleibst es in Ewigkeit. Amen.

So beginnt das Tagebuch der 22jährigen Friederike, das erste von ihr erhaltene schriftliche Dokument. Ein intimes Dokument, denn im Tagebuch spricht die Autorin mit sich selbst, ist sie auf der Suche nach sich selbst. Und es zeigt bereits, wie ihr Lebensgefühl sich als ein Glaubensgefühl äußert. Wie sie in biblischen Bildern lebt. In ihnen zuhause ist, sicher ist im kirchlichen Raum, doch unsicher in allem, was ihr Herz betrifft. Sie sucht Schutz und Hilfe - beim Schöpfer, beim Arzt, beim Retter, der vor Schaden bewahrt. 
Innige und unruhige Worte, in denen sie Gott sucht und sich selbst.
Und die anklingen an die Sprache der Hingabe, der Liebe: Ich bin din, du bist min...
Und darin klingt auch an, was in ihrem Leben ein wichtiges Motiv bleiben wird: die Hingabe, das Sich Selbst Vergessen, gar Verleugnen, dieses mach mich los von mir selbst, das sie bis zu ihrer Todesstunde begleitet.
Und das ein Motiv des Glaubens überhaupt ist: Sich selbst verlieren, um sich in Gott zu finden. Große Theologen haben damit gerungen, Augustin, die MystikerInnen. Diese Frage: was denn Platz hat in mir, wofür ich da sein will, wofür ich mich öffne.

Wie kommt es, dass eine 22jährige so schreibt?
Friederike, am 25. Januar 1800 als erstes Kind des Lehrers Andreas Münster und seiner Ehefrau, der Zofe Louise Hartmann, geboren, wächst in Braunfels, in der Nähe von Wetzlar auf. In einer Familie, in der der Vater alle seine Kräfte und Fähigkeiten darauf wendet, dass er selbst und seine Kinder zu Bildung und bürgerlicher Lebensführung gelangen. Im Fürstentum dort, in dessen Diensten die Mutter stand und der Vater zeitweilig steht, ist man reformiert. Und dort erlebt Friederike in ihrer Jugendzeit eine Erweckungsbewegung. Sehr nah und persönlich. Basler Missionare, von denen einer ein ehemaliger Schüler ihres Vaters war, prägen ihren Glauben. Und wenden ihren Blick auf die sozialen Nöte. Sie steht in Briefwechsel mit ihnen, die als Missionare weiterziehen. Und die nicht nur predigten, sondern ihrem Vater in einer finanziellen Krise gegenüber dem fürstlichen Dienstgeber aushalfen.

Friederike war 16 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Und übernahm den großen Haushalt ihres Vaters, versorgte ihre sechs jüngeren Geschwister und eine Großmutter. Von ihrer schulischen Karriere wird nichts erwähnt, sicher hat der Vater sie ausgebildet. Spätere Autoren haben immer wieder ihre überdurchschnittliche Bildung und ihren scharfen Verstand hervorgehoben. Ihrem Vater scheint sie auch in Zielstrebigkeit und Willensstärke zu gleichen.

Als die jüngeren Kinder selbständig werden und der Vater wieder geheiratet hat-  muss sich auch Friederike einen eigenen Weg suchen. So findet sie 1826 eine Anstellung als Lehrerin in einem Rettungshaus für Kinder im Düsselthal. Dort begegnet ihr der Kaiserswerther Gemeindepfarrer Theodor Fliedner. Sie heiraten im April 1828.

Beide 28 Jahre alt. Beide durch die Erweckungsbewegung geprägt. Beide von den Nöten der Armen, der Kranken, der Gefangenen bewegt. Beide erfüllt von Schaffenskraft und dem Willen, tätig zu sein. Beide unerschrocken und sicher in dem, was sie beginnen wollen.
Genug also für ein gemeinsames Leben. Für ein tätiges Leben. Für Lieben und Arbeiten. Lieben und Arbeiten, das wäre wohl eine passende Überschrift über Friederikes Leben. Und je weiter wir sie begleiten werden, desto mehr tritt noch das Thema Leiden hinzu. 

Lieben und Arbeiten – zwei Weisen, wie wir uns handelnd einbringen in die Welt. Jede und jeder von uns auf eigene Weise. Mit Anfängen, mit glücklichen Zeiten, mit Durststrecken, mit Neuaufbrüchen. Wenn eins von beiden misslingt, dann sind wir zumeist in einer Lebenskrise. Lieben und Arbeiten: Zwei Stränge in unserem Leben, die sich voneinander unterscheiden, manchmal aufeinander beziehen. Und die uns prägen.
So heißt der zweite Abschnitt:
 

II. lieben und beginnen

Die Ehefrau und Pastorin, also Pfarrfrau Friederike übernahm selbstverständlich alle diesbezüglichen Aufgaben im Haus und in der Gemeinde. Sie schien keinen Zweifel an ihrer Rolle zu haben, und die war nach Fliedners Werbebrief, in dem er ihr die Ehe antrug, die Rolle der Gehilfin und segensreichen Gefährtin ihres Mannes.

Dieser Werbebrief ist von großem Umfang und wirft ein klares Licht auf sein Verständnis der Ehe und darauf, was er von seiner zukünftigen Frau erwartet.
Nämlich Stärkung, liebende Teilnahme, Fürbitte, freundliches Mitraten und Mitsorgen einer erheiternden, sanften Gattin. Doch auch seine Aufgabe sieht er darin, der Gefährtin ihren Lebensweg zu erleichtern, zu erheitern und zu verschönern, ...durch treue Liebe und Pflege, durch gegenseitiges Tragen, Stützen und Führen.

Wohlgemerkt, die sanfte und engelgleiche Frau, die wohl doch in irgendeiner Weise auch dem Pastor Fliedner vorschwebte, war Friederike eher nicht. Und wenn er ein paar Sätze später ihre reiche christliche Erfahrung, ihren Mut und ihre Kraft, preist, dann hat er offenbar gleich in den ersten Begegnungen etwas von ihrer Stärke und Eigenständigkeit gespürt.
Er schreibt: Die Pastorin ... darf in jenem Verleugnen der Welt und ihrer Lust nicht zurückbleiben, muß ebenfalls mehr für andere als für sich leben und sorgen und außer der Erfüllung ihrer hausmütterlichen Pflichten ... Gemeindemutter sein, Arme und Kranke mit Liebe pflegen und in diesem Seelsorgen ihre Freude finden.
Und was gehörte nicht alles allein zu den hausmütterlichen Pflichten: die Sorge für die Kinder, fürs Haus mit dem Garten und kleiner Landwirtschaft. Eine Kuh, ein Schwein, drei Morgen Garten-, Obst- und Wiesenland, es musste gepflanzt, geerntet und verarbeitet werden, Bier war zu brauen, Würste wurden gemacht. Im Garten halfen Männer, es gab Hausmagd und Kindermädchen – die Aufgaben in so einem großen Hauswesen mussten organisiert und in Schwung gehalten werden. Katharina v. Bora lässt grüßen.

Für alles dies wünscht sich Fliedner eine Freundin im Herrn, was zunächst einmal nach einer Gleichwertigkeit klingt. Doch da gibt es auch deutliche traditionellere Worte:
Noch eine Eigenschaft von mir darf ich nicht unberührt lassen, schreibt er, dass ich nämlich das Recht des Mannes, Herr im Haus zu sein, mit Festigkeit zu behaupten gewohnt bin. 
Immerhin kann er sich vorstellen, auch einmal nicht recht zu haben. Möchte für den Fall aber am liebsten durch ein williges freundliches Nachgeben der Gattin zum Eingeständnis seines Unrechts bewegt werden. Genaue Arbeits- und Machtverteilung zwischen den Geschlechtern – das ist Fliedners Thema und bleibt es auch.

Und wenn das in unseren Ohren nicht gerade partnerschaftlich klingt – Friederike scheint es zunächst einmal nicht abgeschreckt zu haben. Sie hat sich mit Freuden in ihre Ehe begeben. Wie sie selbst sagt, dass ich vom Herrn als Gehilfin meines Mannes berufen bin, also auch in allen seinen Berufspflichten ihm helfen darf und muss. Wie es dann ausgesehen hat, ist wohl überwiegend ein gutes Einvernehmen, vielleicht sogar so etwas wie ein intuitives Verstehen zwischen beiden gewesen. Zumindest im Grundsätzlichen. Und in den Zielen. Wie sie dorthin gelangen – das war wohl oft auch sehr unterschiedlich bei beiden. Friederike schaute auf die praktische, menschliche, seelsorgliche Seite, während Fliedner Probleme durch Vorschriften und Instruktionen in den Griff nahm.

Gelegentlich sind die Reisen, die er unternimmt, doch recht lang und überlassen Friederike alle häuslichen Sorgen. So sehnt sie sich oft nach seiner baldigen Rückkehr. Am Beginn ihrer Ehe sind Wünsche spürbar, Wünsche auch für sich selbst. Für uns heute, die wir die weibliche Selbstlosigkeit eher kritisch befragen, ist das geradezu erleichternd. Wie sie z.B. an Fliedner ausführliche Berichte über die Entwicklung der Kinder schickt und ihre Freude daran äußert. Und welche väterlichen Rollen und Aufgaben sie ihm zudenkt, sobald er zurück ist.

Es ist Bertold Brecht, der einmal dichtete, dass die Liebe zwischen zwei Menschen eine dritte Sache braucht, wenn sie tragfähig sein will. In der Ehe der Fliedners scheint es so, als hätte es – mindestens - zwei dritte Sachen gegeben: einmal die familiäre Liebe und Fürsorge  und dann die gemeinsamen Arbeitsvorhaben. Und ebenso scheint es, als hätten diese beiden dritten Sachen gar nicht so selten miteinander konkurriert.
Jetzt also unser drittens:
 

III. arbeiten und sich kümmern

Friederike hat – scheint’s – das Geschlechterrollenmodell ihrer Zeit angenommen und doch auch wieder nicht. Nach diesem Modell sollten sich Frauen ganz dem Bereich der Liebe zuordnen – gegenüber den Männern als Arbeitenden im Sinne von Ernährern. Friederike hat ihr Lieben ins Arbeiten und ihr Arbeiten in Lieben gezogen. Sie hat ihre Frauen- und Mutterrolle wie selbstverständlich ausgeweitet. Ich gehöre halb der Anstalt, sagt sie. Und das klingt schon wie der Versuch von vielen Frauen heute, sich in der Vielfalt ihrer Aufgaben zurechtzufinden.

Die Mutterrolle hatte Friederike durchaus auch im beruflichen Bereich. Denn die Schwestern, die seit Beginn der dreißiger Jahre in Kaiserswerth die Krankenpflege erlernten und der von Fliedner begründeten Diakonissenanstalt angehörten, nannten sie auch Mutter. Sprachen von den Eltern im Hinblick auf Hausvater und Vorsteherin. 

Es war ja das Familienbild patriarchaler Prägung, das Fliedner bei seiner Neubelebung des neutestamentlichen Diakonissenamtes vor Augen hatte, und das für ihn die einzige akzeptable Lebensform für Frauen war. Und im Grunde hat Friederike diese Sichtweise geteilt. Frauen konnten demnach  sozialpflegerisch arbeiten, ohne aus einem familiären Zusammenhang zu treten.

Die Töchter-Schwestern in dieser Familie blieben oft in kindlicher Abhängigkeit. Und vielleicht kann man auch sagen: Sie hatten nicht wirklich eine andere Wahl. Sie wurden Lenchen und Minchen genannt. Auch wenn sie selbständig und in großer Verantwortung und fernab vom Mutterhaus ihre Aufgaben erfüllten: schon zu Friederikes Zeit in Elberfeld, Frankfurt, Kirchheim, in Kreuznach und Saarbrücken, in Viersen, Krefeld und Barmen. 

Das wachsende Werk Fliedners, dessen Anfänge man sich nicht bescheiden genug vorstellen kann, begann 1833 mit einem Asyl, einem Zufluchtsort für entlassene weibliche Gefangene, die keine Unterkunft fanden. Hinzu kam eine Kleinkinderschule, und schließlich wurde 1838 eine Pflegerinnen-Anstalt errichtet und mit dem bereits eingerichteten Krankenhaus verbunden. 
Friederike wurde nicht nur die Vorsteherin des Diakonissenhauses, also der Pflegerinnenanstalt, sondern sie war auch zuständig für die Hauswirtschaft des Krankenhauses. Die Anstalt liegt mir wie ein schwerer Zentner auf der Seele, schreibt sie. Und:  Meine Arbeit ist groß und viel. Ich hoffe, dass zur rechten Zeit Hilfe kommen wird. 
Sie selber aktivierte ihre Verbindungen zu Freundinnen und tat viel dafür, dass überhaupt Frauen nach Kaiserswerth kamen, um mitzuarbeiten. 
Die Rollenvielfalt, in der sie lebte und arbeitete, erscheint auch heute noch überwältigend.

Friederike hat sich auch in mütterlicher Verpflichtung gegenüber den Schwestern gesehen. Sie hat sich um sie gesorgt.
Nach Frankfurt schreibt sie Anfang 1842:
Ich wollte einmal mit euch in der Stille überlegen, ob die Lenchen uns dies Jahr besuchen könnte; und wollte dann auch hören, wie ihr euch fühlt: ob ein Wechsel bei euch nötig wird, dass andere in eure Strapazen gehen und ihr einige Zeit in der anderen Ruhe, damit euer Körper nicht zuviel leidet. Ihr wisst, dass ihr offen könnt sein,... Ich weiß, dass der Vorstand nicht gern davon reden hört, allein ich fühle, dass es Schuldigkeit ist.

Der Vorstand, das ist Fliedner, ihr Mann. Wie hatte sie doch in Auseinandersetzung mit seinen Vorschriften und Ideen gesagt? Der Vorsteher kann nur mit Männeraugen merken, was mit Frauenaugen geschehen müsste.
Ein wunderbarer Satz, der den weiblichen Blick mit Geschehen Handeln verknüpft. Es ist wichtig für sie zu erfahren, wie es den Schwestern denn wirklich geht in ihrem Alltag. Und dass sich gegebenenfalls etwas verändern, ein Wechsel passieren muss, wenn die Belastungen zu groß werden.
So war das auch bei der Kleiderfrage. Auch hier spürte Friederike, was die Vorschriften ihres Mannes für die einzelnen Pflegerinnen bedeuteten.
Die Kleidergleichheit richtet vieles heimliche Neiden und Streiten an, schreibt sie an ihren Mann.
Auch hier versuchte sie im Sinne schwesterlicher Strukturen zu handeln, während ihr Mann wie immer allein an die Ordnung dachte. Unfassbar, was Fliedner sich auch in dieser Sache zu bestimmen traute (weiße Halstücher, schwarze Halstücher, wann, wie wo sie zu tragen wären. Alles wurde festgelegt.) Auch für Friederike hatte er zum Brautkleid den Stoff ausgesucht und ihr zugeschickt, und sie freute sich über das schöne schwarze Zeug.
Friederike hat in ihren Arbeitssorgen ihren Glauben gebraucht wie ein Instrument.
Es gibt bei ihr eine Direktheit, ein Gott in den Ohren liegen, ein Beten und Betteln um das tägliche Zurechtkommen, ein Trösten, auch Vertrösten; ein Mut und Zuversicht behalten, für sich und andere.

An ihre Freundin Amalie Focke schreibt sie: Du schreibst von meinem Mut, du liebe, treue Seele. Ich habe vieles zu kämpfen, vieles zu streiten. Ich fühle die Macht des Feindes, der herumschleicht und droht, uns zu verschlingen, ... dass ich rufen möchte: nun ist alles dahin... Oh, die Kreuzesbalken des Diakonissenhauses sind hart und bitter, aber der Herr wird helfen und hat geholfen bis hierher.
Es ist manchmal so, als stellte sie die Dinge in einen neuen Rahmen. In der Psychologie wird heute von re-framing gesprochen als einer Fähigkeit, eine Situation noch mal neu zu betrachten und neu zu bewerten: sie in einen neuen Rahmen zu stellen. Friederike beleuchtet die Dinge sozusagen im Rahmen der Perspektive Gottes. Ihr Glaube also ein Vermögen, eine Situation noch mal in ein neues Licht zu rücken. Und damit auch Arbeitsbelange zu durchdringen, ja zu verändern.
 

IV lieben und loslassen

Friederike hat drei Kinder großgezogen, Luise, Mina und Georg. 
Friederike hat fünf Kinder geboren, die starben, bevor sie leben durften. Das hat sie in ihren Briefen nur wenig thematisiert. Für eine Trauer blieb ihr wohl kaum je Zeit, musste sie doch bald wieder nach vorne schauen, erneut in Hoffnung. 
Gefühle, das wissen und spüren wir, gehen durch den Körper. Und sie werden im Körper aufbewahrt. Ein Kind im Körper tragen und gar verlieren, ist gewiß der deutlichste Ausdruck davon. Für Friederike, so scheint es, gab es zu viel Trauer und zu viel Hoffnung – da bleiben nur hilflose Fragen. Und auch Zorn -über so viel Zumuten von seiten des Mannes und soviel Ertragen von seiten der Frau. Wie kann man das je verstehn? 
Und Friederike hat zwei Töchter, Simonette und Johanna, im Alter von 9 und 4 Jahren durch Typhus verloren. Als die neunjährige Simonette am 1. November 1841 starb, war Friederike selbst auf einer ArbeitsReise in Kreuznach und Saarbrücken, begleitete vier Schwestern, die die Pflege in den dortigen Hospitälern übernehmen sollten. Ihr Mann, besorgt um sie, reiste ihr nach. Gemeinsam mussten sie innerhalb von zwei Wochen auch die kleinere Tochter begraben.
Danach wirkt Friederike in ihren persönlichen Briefen mutlos und stumm. An ihre Eltern schreibt sie: Ich bin ruhig, obgleich ich viel weine ... Viel äußern oder davon reden kann ich nicht, hierzu bin ich zu schwach... Auch habe ich Ursache, dem Herrn zu danken für die drei, die er uns gab und ließ... Klagen werden nicht laut, Leiden, das weiß Friederike längst, müssen ertragen werden. Es sind nur noch wenige Monate bis zu ihrem Tod. Sie rettet sich quasi in ihre Arbeit, beschäftigt sich mit ihren Aufgaben als Vorsteherin.

Am 22. April 1822 stirbt sie bei der Niederkunft mit ihrem zehnten Kind. Friederike Fliedner – geboren, um Neues in die Welt zu bringen, Abbild und Text Gottes.
Ihre letzten geschriebenen Worte, so überliefert es ihre Tochter Mina, lauten: Habe auf mich acht, Hüter in der Nacht.

Liebe Gemeinde,
es gibt Menschen, die bieten Zuflucht und Hilfe und Heilung. 
So wie es im Psalm 36 von Gott heißt: Wie köstlich ist deine Güte, Gott, 
dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben.
Es gibt Menschen, die haben und geben Raum für sich und für andere.
Die bieten Schutz denen, die vom Leben versehrt sind.
Die entdecken die Möglichkeiten von anderen und fördern diese.
Die machen eine Neuanfang.
Die schaffen Orte, die für andere zur Heimat werden.
Es gibt Menschen, die sind mütterlich, weil sie mütterlich handeln.
Die nähren und heilen andere, weil das allein Sinn macht.

Warum Friederike Fliedner dies alles war und konnte? 
Wohl, weil sie selber Zuflucht nehmen konnte unter dem Schatten der Flügel Gottes. Und sich bergen in Gottes Barmherzigkeit.

Und vielleicht ist am Ende auch das am ehesten zu verstehen, was sie Hingabe und Selbstverleugnung nannte, ein Sich selbst aus der Hand geben und darin sich selbst finden, weil schließlich ein anderer auf sie acht geben wird.

Mir geht es so, dass ich spüre, wie im Blick auf diese Lebensgeschichte so vieles lebendig wird: Friederike in ihrem unbändigen Neubeginnen. In ihrem Gelingen und in ihrem Leiden. In ihrer Kraft und in ihrem Kummer. In ihrer Gottebenbildlichkeit.
Kein Lächeln mehr über alte, womöglich nicht mehr nachahmenswerte Frauenbilder.
Stattdessen: Mit-Leiden, Respekt und Anerkennung, Schwesterlichkeit und Nähe, doch auch Fremdheit und Nicht verstehen können.

Gott vergisst nicht diese Lebensgeschichte. Der Hüter in der Nacht bewahrt sie auf: die verstummten Klagen und die vergangenen Hoffnungen. Sie sind nicht vergangen. Sie wirken noch immer.

So sind wir miteinander verbunden. Wir heute hier mit Friederike vor fast 200 Jahren. Ziehen ihr lieben und arbeiten in unser leben und glauben.

Und es bleibt unsere Hoffnung, dass auch wir in unserer Lebensgeschichte zu uns selbst und zu Gott finden werden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
 

Hanni Berthold