Stadtpredigt vom 21.05.2006 in der Apostelkirche
über 1. Mose 1,27
Über den Grund der Menschenwürde
von Prof. Dr. Hans-Richard Reuter (Münster)

I.
Liebe Gemeinde!
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz ist kein Bibelzitat, sondern er steht seit 1949 am Anfang unserer Verfassung, im Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. In modernen Verfassungstexten qualifiziert der Ausdruck „Menschenwürde“ den Status derjenigen Wesen, denen gleiche Menschenrechte zukommen. Von denen, denen wir Menschenwürde zuschreiben, sagen wir zugleich, dass ihnen die gleichen elementaren Rechte zuzuerkennen sind. Aber: Was ist der Grund dieser Würde? Worin besteht sie und was ist ihre Begründung? Darüber sagt das Grundgesetz direkt nichts.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Nach 1945 konnte sich dieser Satz deshalb auf einen breiten Konsens stützen, weil es sich bei ihm um eine Reaktion auf die menschenverachtende Politik des Nationalsozialismus handelte. Damals galt es als diskussionslos evident, welche Handlungen es waren, die jedenfalls der Menschenwürde widersprechen: Entrechtung, Verfolgung, Verschleppung, Versklavung, Zwangsarbeit, Terror und Massenmord. Darüber hinaus erschien eine bestimmte Begründung der Menschenwürde weder notwendig noch möglich. Man sprach geradezu davon, der Satz von der Menschenwürde sei „eine nicht interpretierte These“. In der Tat: Der Verfassungsbegriff der Menschenwürde ist begründungsoffener Begriff. Es gibt kein weltanschauliches, philosophisches oder religiöses Monopol auf seine Auslegung. Die konkrete Auslegung der Menschenwürde-Idee ist von den kulturell geprägten Selbstverständnissen abhängig, die in einer Gesellschaft lebendig sind – und eine pluralistische Gesellschaft ist eine solche, in der es Streit, in der es auch Kontroversen über den Grund der Menschenwürde geben kann und gibt. 
Man muss daran auch nach innen, an die Adresse der christlichen Kirchen erinnern: Es gibt kein christliches Monopol auf die Auslegung der Menschenwürde. Neulich haben wir ja wieder einmal das Schauspiel einer fragwürdigen Wertedebatte erlebt. Da wurde – in diesem Fall von der Bundesfamilienministerin gestützt von zwei Bischöfen – im Rundumschlag behauptet, auf den sog. christlichen Werten basiere unsere ganze Kultur und unsere Verfassung dazu. So pauschal sollten wir besser nicht reden. Auch was die Idee der Menschenwürde angeht, sollten Christen und Kirchen nicht den Eindruck erwecken, Alleineigentümer eines Gedankens zu sein, zu der sie selbst Jahrhunderte lang ein durchaus gespanntes Verhältnis unterhalten haben und er auch andere als christliche Wurzeln hat. Als Christinnen und Christen reklamieren wir in Sachen Menschenwürde keinen Alleinbesitz. Was wir tun können ist: eine Deutung vorlegen – nicht mit Verweis auf eine besonders glorreiche Geschichte des Christentums, sondern in Erinnerung an die Quellen unseres Glaubens, die wir in großen Stücken übrigens mit dem Judentum teilen. Was wir tun können und sollten ist: auf der Grundlage dieser Quellen eine Deutung anbieten – mit der offenen Frage, ob diese Deutung nicht besser und einleuchtender als andere zu erläutern vermag, was es mit der Menschenwürde auf sich hat. 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – offenbar braucht dieser Satz solche Deutungen. Denn bei näherer Betrachtung ist er gar nicht so leicht verständlich. Will der Satz sagen: die Menschenwürde kann nicht angetastet werden, oder bedeutet er: sie darf es nicht? Bezieht er sich auf ein Sein, ein Faktum? Aber mit Blick auf die entwürdigten Iraker im US-Gefängnis Abu Ghraib oder den in Potsdam zusammengeschlagenen Mitbürger schwarzer Hautfarbe wissen wir doch: Die Menschenwürde ist antastbar! Oder bezieht sich der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde auf ein Sollen, ein Gebot? Aber worin sollte das begründet sein? Womöglich weist die Zweideutigkeit der Formulierung darauf hin, dass der Grund der Menschenwürde in einem Bereich angesiedelt ist, der dem Gegensatz von Sein und Sollen vorausliegt. 
Von der Sphäre, die diesem Gegensatz vorausliegt, spricht der Mythos. In der Schöpfungserzählung, die wir in der Genesis, im 1. Kap. des 1. Mosebuches finden, heißt es in den Versen 26ff: 
Und Gott sprach: Lasst uns Menschen schaffen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und als Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt die Erde und macht sie euch untertan! [ ...] Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

II.
Es ist literarisch gesehen ein Mythos, aus dem diese Sätze stammen, 
aber einer von hoher Rationalität. Nennen wir seinen Verfasser, wie es uns die Bibelwissenschaft gelehrt hat, den Priester. Er gehörte zu jener Führungsschicht aus Jerusalem, die der babylonische König im 6. Jahrhundert vor Chr. in die Verbannung schleppen ließ. Den Verbannten leuchtete nicht mehr ein, dass am Anfang alles damit begonnen haben sollte, dass Gott in der Wüste einen Garten anlegte, den Menschen bildete wie ein Töpfer sein Gefäß, ihn in den Garten hineinsetzte usw. Solch altertümliche Geschichten wollten sie nicht mehr glauben. 

Der Priester erzählte darum keine derartigen Geschichten mehr, sondern lehrte, lehrte vergleichsweise in rationaler Klarheit von der Erschaffung der ganzen Welt und davon, dass Gott, der die Welt durch sein Wort ins Leben rief, ein Geheimnis ist, das sich menschlicher Vorstellung entzieht. Gott – das Geheimnis der Welt. Aber: Was ist der Mensch? Auf diese Frage gibt der Priester in seinem Lehrstück in äußerster Konzentration die Antwort: Der Mensch ist das Geschöpf Gottes. Aber: Was bedeutet das? Der Priester hatte einen kühlen Verstand, doch als er nach der Erschaffung der Tiere auf die des Menschen zu sprechen kommt, da schlägt sein Herz höher, denn nun lehrt er ja von seinesgleichen. Da leuchtet jeder Satz, nahezu jedes Wort in reichhaltigen Farben. Ich will vier Aspekte nennen, die – wie könnte es bei Gottes guter Schöpfung anders sein – alle miteinander zusammenhängen, vier Aspekte, die geradezu auseinander hervorgehen:

Schon die allerersten Worte sagen aufregend Befreiendes über den Menschen: Und Gott sprach: Lasst uns Menschen schaffen! 
Alles, was sonst noch ist und kreucht und fleucht, das hat Gott durch einen Befehl ins Leben gerufen: Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern [...]! Und es geschah also – und so fort bis zum sechsten Tag. Aber so, auf Befehl, entsteht kein Mensch. Gott kommandiert den Menschen nicht ins Leben. Er besinnt sich erst, geht erst mit sich zu Rate, führt einen inneren Dialog, bevor er sich aus Freiheit entschließt: Lasst uns Menschen schaffen! Der Mensch ist Gottes Projekt, ein Entwurf, der gut überlegt sein will, damit er glückt. Gott will den Menschen als sein geglücktes Projekt, entworfen aus nichts - aus nichts anderem als seiner göttlichen Kreativität. Befehle machen den Menschen fertig; Gottes Entschluss macht ihn frei, entwirft ihn zu einem noch nicht fertigen Wesen. 
Der Mensch ist – so haben wir es vorhin mit den Worten des 8. Psalms gesagt – nur wenig niedriger gemacht als Gott, die ganze Schöpfung liegt ihm zu Füssen. Aber eine absolute Sonderstellung hat der Mensch nicht. Für ihn ist kein eigener, kein separater Schöpfungstag reserviert: Zusammen und gemeinsam mit den Tieren des Landes ist er ein Geschöpf des sechsten Tages. Und doch gibt es da einen Unterschied: Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung. Als das Wesen, das Gott aus Freiheit die Ehre geben kann, ist er zur Partnerschaft mit Gott berufen – aber er ist so frei, dass ihm, wie wir aus der Bibel wissen, auch die Abwendung von Gott und die Hinwendung zum Bösen offen steht. Darin entspricht er Gott, dass er Selbstzweck ist, Zweck an sich selbst und niemals nur Mittel, auch nicht bloßes Mittel für Gott. Im Geschenk der Freiheit besteht als erstes seine Würde. 
Es kommt darauf an, genau zu sagen, was mit dieser Freiheit gemeint ist. Es ist nicht die Freiheit zu tun, was man will. Diese Freiheit kann man sehr wohl einschränken, ohne jemandes Würde zu verletzen. Man darf einen Verbrecher an seinen Taten hindern, indem man ihn einsperrt. Man darf jemand, der dauernd bei Rot über die Ampel fährt, den Führerschein entziehen. Die Freiheit, die wir mit der Würde in Verbindung bringen, ist eine andere. Es ist im Kern die Gott gleichende Freiheit, zu erwägen und wollen, was man will. Diese Freiheit ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns als authentisch erfahren und damit uns selbst achten und wertschätzen können. Man kann sagen: Wer daran gehindert wird, zu wollen, was er will, der wird gedemütigt, nämlich in seiner Selbstachtung verletzt. Deshalb verletzt die Folter zutiefst die Menschenwürde, denn sie nimmt einem Menschen die Möglichkeit, sich in seiner Selbstachtung darzustellen.

Aber jetzt das Zweite: Der Priester verwendet für diese menschliche Würde ein starkes Wort: Lasst uns Menschen schaffen – so lässt er Gott sprechen – lasst uns Menschen schaffen, ein Bild, das uns gleich sei! Und noch einmal: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. 
Der Mensch ist dazu bestimmt, Gottes Ebenbild auf Erden zu sein. 
Erhabener kann vom Menschen nicht geredet werden. Die Großkönige im alten Orient stellten in den Provinzen ihres Reiches, in denen sie nicht regelmäßig anwesend waren, Statuen, Standbilder von sich auf, um die Untertanen an ihren Herrschaftsanspruch zu erinnern. Daran denkt der priesterliche Lehrtext, wenn er den Schöpfer vom Menschen als seinem Bild sprechen lässt. Aber: Nicht für einen Einzelnen wird dieses hoheitsvolle Wort reserviert, es wird egalitär für alle Menschen verwendet. Sie alle sind gleichermaßen dazu bestimmt, Statthalter Gottes auf Erden, Repräsentanten des Unbedingten zu sein – in aufrechter Haltung, in der Darstellung ihrer Selbstachtung.
Mit dieser Würde verbindet sich allerdings eine Aufgabe. Wir sind frei,
aber damit auch verantwortlich. Der Mensch ist zur Freiheit, aber eben deshalb auch zur Verantwortung bestimmt. Er ist ein verantwortungsfähiges Wesen. Dem Auftrag: „Macht euch die Erde untertan“ – dem Auftrag zur Herrschaft über die Erde und über die nichtmenschliche Kreatur ist der Mensch nur dann wirklich treu, wenn seine Herrschaft der Herrschaft Gottes entspricht. Und das Kriterium dieser Entsprechung lautet: Gott regiert zwar die Welt, aber er vergewaltigt sie nicht. Nicht die ausbeutende, unterwerfende, despotische Herrschaft ist gemeint, sondern die weise, die fürsorgende Herrschaft. Gemeint ist eine gute Haushalterschaft, die die Balance der Ökosysteme respektiert und über die gerechte Aufteilung der Lebensräume wacht, damit eine Vielfalt von Formen, Arten und Individuen gedeihen können. 

Und nun das Dritte; es heißt da in unserem Text: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, [...] und schuf sie als Mann und als Frau. 
Um zu verstehen, was Menschenwürde heißt und danach zu handeln,
reichen intellektuelle Einsichten in die Freiheit und Verantwortungsfähigkeit des Menschen offenbar nicht zu. Wer erst lange darüber nachdenken muss, ob jemandem auch wirklich Würde zukommt, der hat offenbar noch nicht verstanden, was Menschenwürde bedeutet. Offensichtlich wurzelt die Möglichkeit, es zu verstehen und auch entsprechend zu handeln, nicht nur oder nicht vorrangig in der Vernunft, sondern in einem Gefühl. Das Gefühl für die Würde des Menschen ist so etwas wie eine spontan wirkende, die ganze Welt erschließende Einstellung und Haltung. Wie kann ein solches Gefühl, eine solche Haltung und Einstellung entstehen? Doch wohl so: Niemand kann den andern achten und schätzen, der sich nicht selbst achtet und wertschätzt. Aber wiederum kann niemand sich selbst achten und wertschätzen, der nicht zuvor seinerseits in allen wesentlichen 
Bezügen seiner Existenz anerkannt worden ist und wertgeschätzt wird.
Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das lautet: „Wer sich selbst ansieht, der leuchtet nicht.“ Das ist wahr: Wer in den Spiegel guckt und sieht bloß sich selbst, der steht nicht strahlend da, wie das schöne Ebenbild Gottes, sondern verfällt auf Dauer in tiefe Traurigkeit. Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Der Mensch ohne den anderen Menschen ist ein Gespenst des Menschen. Dass der Mensch als Mann und als Frau geschaffen ist, ist deshalb eine unmittelbare Folge seiner Gottebenbildlichkeit. Damit der Beziehung Gottes zum Menschen auch eine tiefe Beziehung zwischen den Menschen entspreche, damit kein Mensch bloß sich selbst ansehen muss, damit er den Glanz im Auge des anderen sehen kann, damit die Menschen einander zum Ansehen und Anfassen, zum Ansprechen und Anhören, zum Anerkennen und Wertschätzen, ja zum Lieben haben – darum schuf Gott den Menschen als Frau und als Mann.
Mann und Frau – das ist überhaupt die einzige Differenz, die unser Lehrstück unter den Menschen erwähnt – aber auch sie nur deshalb, weil in dieser Differenz, im Unterschied der wechselseitig Liebenden, die tiefe Einheit der Unterschiedenen erfahren werden kann, und zwar rückhaltlos. Während bei Pflanzen und Tieren verschiedene Arten unterschieden werden, finden beim Menschen solche Klassifizierungen nicht statt. Der Mensch in seiner Würde, der gottebenbildliche Mensch ist nicht differenziert nach Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe oder Religion – und hinsichtlich seiner Würde auch nicht nach Geschlecht. 

Und schließlich das Vierte: Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt die Erde. 
Der Schöpfer segnete die Sexualität, die die Menschen durchaus mit den Tieren gemeinsam haben. Das heißt doch auch: Die Gottebenbildlichkeit ist der Menschheit als Gattung, in der Kette der Generationen zugesprochen. Würde kommt dem Menschen als Gattungswesen zu. Bei jedem Wesen, das vom Menschen abstammt, müssen wir jedenfalls seine Anlage zum „Ich“, zu Freiheit und Personsein und damit seine Teilhabe an der menschlichen Würde achten. Das, was wir meinen, wenn wir „Ich“ sagen, um unserer Personalität, unserem Selbstsein Ausdruck zu verleihen, ist nicht auf ein bestimmtes Datum unserer Biographie zu fixieren. Deshalb sagen wir ja auch: „‚Ich’ wurde dann und dann geboren“, obwohl wir, als wir geboren wurden, noch gar nicht „Ich“ sagen konnten und auch keine bewusste Erinnerung an dieses Datum besitzen. 
Es kommt also nicht darauf an, ob sich an einem einzelnen Menschen Freiheit, Verantwortungsfähigkeit, Ich-Bewusstsein usw. anhand bestimmter tatsächlicher, aktuell feststellbarer Eigenschaften zeigen. Wäre es so, dann hätten das Neugeborene, der Komatöse und die Demente keine Würde – vielleicht hätte nicht einmal der Schlafende ein Würde, weil er aktuell nicht bei Bewusstsein ist. In der Schöpfungsperspektive ist die Würde nicht zuerst das, worüber wir als Einzelne verfügen, sondern etwas, wozu wir als Mitglieder der Menschheit bestimmt sind. Als Mitglieder der Menschheit werden wir geboren, nicht etwa von anderen zugelassen oder kooptiert. Wollten wir sagen, jemand werde als Mitglied der Menschheit durch andere erst ausgewählt, also selektiert und kooptiert, so hätten wir mit der Idee der Menschenwürde auch den Gedanken der Menschenrechte aufgegeben. Denn der setzt voraus, dass der Mensch als geborenes Mitglied der Menschheit aus eigenem Recht allen anderen gegenübertritt. Mit der Gottebenbildlichkeit ist eine Bestimmung jedes Menschen gemeint, die nicht dadurch verloren geht, dass ihr ein Einzelner nicht entspricht oder entsprechen kann. Nicht menschliche Vollkommenheit, sondern eine ultimative, eine göttliche Anerkennung und Wertschätzung konstituiert die menschliche Person. Ein Gedicht von Kurt Marti mit dem Titel ‚Geburt’ sagt es so: 

ich wurde nicht gefragt
bei meiner zeugung
und die mich zeugten,
wurden auch nicht gefragt
bei ihrer zeugung
niemand wurde gefragt
außer dem Einen
und der sagte 
ja

ich wurde nicht gefragt
bei meiner geburt
und die mich gebar
wurde auch nicht gefragt
bei ihrer geburt
niemand wurde gefragt 
außer dem Einen 
und der sagte
ja

III.
Das also ist der Mensch in seiner Würde als Gottes Geschöpf: Geschaffen, aber mit Freiheit begabt. Einer, der sein Leben führt als gegebenes und zugleich aufgegebenes. Zur Wertschätzung und Liebe fähig, weil er Wertschätzung und Liebe erfahren kann. Als Mensch gezeugt, nicht gemacht. Als Mitglied der Menschheit geboren, nicht selektiert und kooptiert. Darüber steht das Urteil des Schöpfers am Anfang: Und siehe, es war sehr gut! Ist es noch gut? Heute, im Zeichen von Reproduktionsmedizin und Anthropotechnik treten Menschen auf, die den großen Satz „Lasst uns Menschen schaffen“ gern im eigenen Namen wiederholen würden: „Wir wollen einen von uns kopieren!“ Sind die, die so sprechen wissenschaftliche Psychopathen oder die Avantgarde einer schönen und besseren neuen Welt?
Es war die große Verheißung der neuzeitlichen Rationalität schon seit ihrem Beginn, die Gottebenbildlichkeit durch technische Weltbeherrschung zu realisieren. Verständlich ist diese Verheißung. Denn wer wollte bestreiten, dass uns ein Riss von Gottes guter anfänglicher Schöpfung trennt? Wer wollte wagen, im Angesicht von Not, Krankheit und Leid zu behaupten, das alles sei gottgewollt und sehr gut? Aber es ist eine Frage der Verantwortungsfähigkeit des Menschen, eine Frage seiner verantworteten Freiheit, auch bei der Bekämpfung von Krankheit und Leid das richtige Maß zu wahren. Heute, da Genetik die Genesis beerbt, sind die Mittel greifbar nahe, die es erlauben, den Unterschied zwischen Gezeugtem und Gemachtem zu verwischen, durch optionale Geburt das Unberechenbare, den Zufall, das Zerstörerische zu beherrschen. Heute scheint die Möglichkeit der technischen Selbstoptimierung und Selbstperfektionierung des Menschen greifbar nahe. Eine Welt ohne Leid, ohne Schmerzen, Entbehrung und Tod wird das zwar sicher nicht bringen – wäre es aber eine Welt, in der der Gedanke der gleichen Würde und Rechte aller Menschen noch zu halten wäre? 
Stellen wir uns vor, einer von uns spielt erfolgreich Schöpfer und hebt durch reproduktives Klonen die bisher bestehende Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf auf: Warum verstieße es denn gegen die Menschenwürde, einen Menschen mit identischem Erbgut zu kopieren? Schließlich bewirkt doch die Natur im Fall eineiiger Zwillinge das gleiche, und eine identische genetische Ausstattung schafft wegen der unterschiedlichen sozialen Einflüsse, denen diese Kopien ausgesetzt wären, eben doch nicht zwei vollständig identische Menschen. Und selbstverständlich stünde auch dem Klon der Schutz seiner Menschenwürde zu. 
Der Punkt, auf den es ankommt, ist aber ein anderer: Einen Menschen zu klonen würde ihm die Unvorhersehbarkeit seiner genetischen Ausstattung nehmen. Diese Unvorhersehbarkeit der Anlagen und Eigenschaften, die Zufälligkeit unserer genetischen Ausstattung ist aber eine elementare Bedingung dafür, dass wir uns – unbeschadet aller Verschiedenheiten – in dieser Hinsicht als Gleiche unter Gleichen verstehen können: Bislang ist, so weit wir wissen, keiner von uns gemacht worden. Wenn einer von uns Schöpfer spielte und die Differenz von Schöpfer und Geschöpf aufhöbe, dann höbe er auch die elementare Gleichheit auf, die bisher noch darin besteht, dass niemand von uns seine Persönlichkeitsmerkmale auf die absichtliche Planung durch einen anderen Menschen zurückführen muss. Es wäre eben das Ende der gleichen Würde aller Menschen, wenn ein diesseitiger Schöpfer seine Machwerke unter den Zwang der von ihm gewählten Eigenschaften stellte. 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein voraussetzungsreicher, ein deutungsbedürftiger Satz. Ich habe eine Deutung aus den Quellen unseres Glaubens, aus der Schöpfungsperspektive versucht. Vielleicht leuchtet Ihnen etwas davon ein.

Amen.