Stadtpredigt vom 28.05.2006 in der Apostelkirche
zu Lukas 10,29
Über die Würde des Anderen
von Oberkirchenrätin Cornelia Coenen-Marx (Hannover)


Liebe Gemeinde,  die Strasse, auf der der Überfall passierte, die Strasse von Jerusalem nach Jericho, bin ich zuletzt vor der 2. Intifada  gefahren. Heute müsste man an israelischen Siedlungen entlang, durch zwei oder drei Checkpoints , da vorbei, wo gerade der Mauerring gebaut wird, hinunter ins Jordantal. Mir reicht es schon, die paar Kilometer nach Bethlehem oder Ramallah zu fahren, für den man manchmal 2 Stunden braucht.  Dabei konnte ich selbst am Ende immer passieren – ganz anders , als die palästinensischen Freunde,  mit denen ich oft unterwegs bin. Zu erleben, wie die kontrolliert werden, an der Mauer zurückgewiesen werden, wie die sich im eigenen Land nicht frei bewegen können, das ist wirklich deprimierend. 

Ich bewundere alle, die darauf nicht mit Hass und Wut reagieren, sondern   Friedenszeichen setzen.  So wie die Ärzte für Menschenrechte. Sie schulen Kollegen für den Ernstfall eines Anschlags, trainieren die Krisensituation in allen Einzelheiten – Israelis und Palästinenser gemeinsam. Wenn Menschen lebensgefährlich verletzt sind,  von einer Bombe zerrissen werden,  dann spielt es schließlich keine Rolle mehr, welchen Ausweis sie haben, welche Sprache sie sprechen. 

Der Israeli Yithak Frankental verlor 1995 seinen Sohn durch den Terror der Hamas. Der junge Soldat war als Anhalter auf einer Militärstrasse unterwegs und wurde von Terroristen gekidnappt. Auch der Vater machte sich auf - zu palästinensischen Eltern, die ihre Kinder bei Anschlägen verloren hatten. Und fand Menschen, die seine Trauer und seine Wut teilten.  Inzwischen ist daraus eine Bewegung geworden – die Elternkreise für den Frieden. Mehr als 300 Angehörige von Opfern auf beiden Seiten - Mütter , Väter, Söhne und Töchter-  setzen sich gemeinsam für Versöhnung ein. Sie gehen in Schulen und erzählen ihre Geschichten - immer zu zweit,  eine israelische und eine palästinensische Geschichte -  damit auch andere begreifen, dass Menschen in ihrem Leid gleich sind. Und das es  nicht weiterführt, Opfer mit immer neuen Opfern zu rächen. 

Eine Gruppe  hat sich schließlich auf den Weg nach Auschwitz gemacht. Sie wollten zurück an den Anfang, verstehen, woher die Sorge ums Überleben kommt, die Suche nach Sicherheit und militärischer Stärke, die Verachtung der Opfer. Emile Shoufani, der palästinensische Leiter dieser Gruppe, erhielt letztes Jahr einen israelischen Preis. In seiner Rede an der Ben Gurion Universität sagte er, die größte Herausforderung unserer Tage sei der interkulturelle und interreligiöse Dialog. Der gelinge eigentlich nur jenseits der Tagesordnungen und vorbereiteten Reden, wo Menschen diese Masken ablegen und dem anderen in die Augen, in die Seele schauen. „ Es geht darum, barfuss und vollkommen nackt, jenseits von Sprache und  Kultur, den  Weg auf den anderen zuzugehen... Es geht nicht um Toleranz – die hat ihre Grenzen in der Angst, die wir spüren , wenn unsere Identität in Gefahr ist. Wir müssen wahrzunehmen, dass unsere Existenz der der anderen entspringt. Mein Leben wird mir von Tag zu Tag, und von einem Moment zum nächsten, von anderen gegeben.“

Vielleicht muss man so aneinander gekettet sein wie Israelis und Palästinenser, um zu dieser Tiefe der Gedanken zu kommen. Wer dort lebt, der spürt jedenfalls, was es heißt , in einem größeren Zusammenhang zu stehen.  Geschichte, Religion, Familie und Herkunft bestimmen die eigene Identität – auf Gedeih und Verderb. Keiner ist nur auf sich bezogen. Gerade darum ist es so erstaunlich, wenn Menschen die Kette nicht schließen, nicht „zumachen“  hinter Mauern und Masken , sondern sich öffnen für andere. Ihre Trauer, ihre Verletzungen zeigen, barfuss und vollkommen nackt auf andere zugehen. Normalerweise verbergen wir unsere Verletzlichkeit. Gerade uns im Westen gelingt das sehr gut: wir können allein leben, uns abkapseln, unsere Individualität pflegen  - gut gesichert,  abhängig allenfalls von Sozialstaat und Konjunktur. 

Für Leute wie uns ist die Geschichte vom Barmherzigen Samariter gedacht. Für Leute, die nicht mehr so recht wissen, wer denn nun ihr Nächster ist. Weil sie die Abhängigkeit und die Verkettung des Schicksals gar nicht mehr spüren. Weil sie alle Härten mit Geld abfedern können und alle Schwächen zu tarnen gelernt haben.  Es scheint, als ob die Wirklichkeit, in der wir leben, uns den Blick auf den Nächsten verbaut. Vielleicht auch den Blick auf das Leben. Die Bilder, die wir sehen, sind dafür jedenfalls kein Ersatz. Wir werden ja  überschwemmt von Bildern der anderen-  Schwerverletzte aus Java, zusammengeschlagene Schwarzafrikaner bei uns, Sterbende in einem Heim, Leukämiekranke bei einer Gala, - aber wir können die Welt nicht retten. So bleiben wir Zuschauer, schalten ab und fragen zuerst nach uns selbst , nach unseren Werten, nach unserem Glauben. Die Frage nach dem ewigen Leben ist offenbar so etwas wie eine Luxusfrage. Sie wird Jesus nur zweimal gestellt – von dem reichen jungen Mann und von dem Schriftgelehrten. Beide ahnen, dass das ewige Leben etwas mit ihrem Alltag zu tun hat – was muss ich tun, fragen sie, um wirklich zu leben  ? Die Antwort ist einfach: du musst heraus aus der Zuschauerhaltung. Die Antwort nach dem Nächsten entscheidet sich nicht vor dem Fernsehgerät, sondern draußen, wo du dem anderen wirklich begegnest. 

Zum Beispiel auf der Strasse von Jerusalem nach Jericho, die damals so gefährlich war wie heute. Da liegt ein Mensch nackt, verwundet und  halbtot. War er reich oder arm ? Ist er einheimisch oder fremd  ?  Er trägt nichts mehr am Leibe, was seine Identität verrät. Nichts mehr, was weiterhelfen könnte – kein Geld, kein Handy, keine Papiere. Er kann nicht einmal mehr auf sich aufmerksam machen . Ein Opfer, schwer zu ertragen, leicht zu übersehen. Der Priester und der Levit, auf der Suche nach dem ewigen Leben, sehen ihn jedenfalls nicht – nicht wirklich. Nur der Fremde, der Samaritaner, erkennt in der jämmerlichen Gestalt seinesgleichen. Es jammert ihn, heißt es in der Geschichte. Und er steigt von seinem Reittier und bückt sich herunter. Ganz ohne Berührungsängste. Er wäscht die Wunden aus, verbindet sie, hebt den Verletzten auf das eigene Tier, bezahlt schließlich  Herberge und  Pflege. Und schenkt dem Fremden das Leben noch einmal neu. In solchen Augenblicken ist zu spüren, dass unsere Existenz ganz und gar von anderen abhängt. 

Wer, meinst Du, ist dem Hilfebedürftigen zum Nächsten geworden – fragt Jesus. Und plötzlich schwingt da die Idee mit , Du könntest  selbst eines Tages  auf Hilfe angewiesen sein. Mitleid brauchen, weil Du leidest. Und froh sein, wenn dir dann einer begegnet, der das Leiden kennt und  nicht verdrängt. Der einfach barmherzig ist so wie dieser Fremde hier. Oder wie die philippinische Krankenschwester, die türkische Altenpflegerin, ohne die unser Gesundheitssystem längst nicht mehr funktionierte. Menschen, deren Beruf wenig Anerkennung hat , Fremde , die oft auch ohne Sprache wissen, was dem anderen fehlt. 

Wir wissen es ja oft selbst nicht mehr. Was wir wirklich zum Leben brauchen , wer uns wirklich braucht. Die Fragen des Schriftgelehrten sind unsere Fragen: Vor lauter Möglichkeiten, findet er  nicht zu Notwendigen. Jesus verweist den Schriftgelehrten an das Opfer , an den Menschen, dem wirklich etwas fehlt. So finden beide zum Leben – der eine, weil er Hilfe bekommt,  und der andere, weil er helfen kann. Beide finden  zu Gott, der einen über den armen Nächsten, der andere über den reichen Nächsten. Shoufani hat Recht, wir sind aufeinander angewiesen, unsere Existenz wird uns von Tag zu Tag von anderen gegeben. Und wir erkennen das in dem Augenblick, wo wir ohne die Masken von Status und Kultur, barfuss aufeinander zugehen. 

Eigentlich ist das ein Bild für die Liebe. So wie die Geschichte vom Barmherzigen Samariter auch eine Liebesgeschichte ist. Letztlich wohl die Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen. Manche Ausleger haben in dem Fremden, der seinen sicheren Platz verlässt und zu dem Opfer heruntersteigt, Gott selbst erkannt. Gottes Sohn, der nicht in seinem Himmel bleibt, der uns aufhebt aus dem Dreck und alles gibt, damit wir zum Leben finden. Andere haben ihn in dem Leidenden erkannt. Ist nicht der Christus unter die Räuber gefallen, von Pharisäern vergessen , von Römern erkannt ?  Am Ende nackt ausgezogen, gefoltert und halb tot geschlagen – irgendwo außerhalb von Jerusalem ? So oder so : Gott ist mittendrin in dieser Liebesgeschichte. Gottesliebe und Nächstenliebe sind aneinander gebunden. Darum ist diese Geschichte so tief eingewandert in unsere Kultur, in unser Rechtsverständnis. Mit Menschenwürde und unterlassener Hilfeleistung, mit Caritas und rotem Kreuz. 

„Neben dem heiligen Sakrament“, hat der amerikanische Schriftsteller S. C. Lewis einmal gesagt, ist dein Nächster das Heiligste, was Gott deine Sinne spüren lässt.“  Ich lese das und sehe vor meinem inneren Auge den Hilfsbedürftigen – nicht unberührt wie die Oblate auf dem Silberteller, sondern schmutzig und blutig im Dreck. Und doch: das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Eine Erinnerung an den Gekreuzigten. Und ich sehe den Samariter, den Fremden, von vielen gering geschätzt – und doch ein Bild der Barmherzigkeit Gottes, der meine Verletzlichkeit nicht verachtet. Darin liegt die Würde des anderen – dieser Mensch, den ich vielleicht gar nicht ertrage, trägt das Bild des Menschensohns. Das gilt auch für die vielen Bilder, die uns täglich überfluten – aus Java, aus Potsdam, aus Moskau, aus Palästina. 

Die Welt ist zusammengerückt und aneinandergebunden. Nicht nur im Nahen  Osten.  Der vielbeschworene Kampf der Kulturen findet ja längst in unseren Städten statt und die Angst vor den anderen wächst. Vor den Ländern aus Osteuropa, den Einwanderungsströmen aus Schwarzafrika, vor dem Islam. Aber den Islam gibt es nicht, und niemand ist einfach nur Teil seiner Kultur. Es geht um einzelne Menschen. Menschen, die Hilfe brauchen, um zu überleben in ihrem Land. Menschen, die Hilfe brauchen, um hier anzukommen. Nicht einfach Geld, sondern Mitgefühl , Zeit und Nähe. Einen Menschen – Sie und mich. „ Was ich dem anderen schuldig bin, das weiß und fühle ich nur, wenn ich ihm ins Auge blicke, ihm zuhöre und mich auf ein Miteinander einlasse“, sagt Hans Eberhard Richter. Der einzige Weg , die Zukunft zu gewinnen, ist der Weg des Mitgefühls. Das kann man auf dem Weg nach Jerusalem lernen. Amen. 

Cornelia Coenen-Marx