Stadtpredigt vom 11.06.2006 in der Apostelkirche
Über die Zukunft des Lebens
von Zoodirektor Dipl. Ing. Jörg Adler (Münster)


Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Da treffen sich zwei Planeten und der eine fragt den anderen: „Hallo, wie geht’s Dir denn so?“ „Ach“, jammert der andere Planet, „mir geht es schlecht, ich bin krank“. „Oh“, fragt der eine, „was hast Du denn?“ Antwortet der andere: „Ich habe Menschen“. „Ach so, mach dir nichts draus“, erwidert der eine, „das geht vorüber!“ 

Oh Gott, werden Sie jetzt vielleicht sagen, das ist ja ein makabrer Scherz, und ein sehr unchristlicher noch dazu. Denn ob und wie lange es Menschen auf der Erde geben wird, liegt allein in Gottes Hand. Und damit liegt auch unsere Zukunft in Gottes Hand. Wenn wir uns doch darauf verlassen könnten, liebe Gemeinde, ich wäre glücklich und beruhigt zugleich. Ich müsste mir nicht mehr täglich Sorgen machen über unseren Umgang mit der Natur, ich hätte keine schlaflosen Nächte mehr, wenn ich an die Vernichtung der biologischen Vielfalt denke. Wenn wir uns blind auf Gott verlassen könnten, wäre diese größte Katastrophe der Menschheit nur eine vorübergehende Erscheinung. Ein Planspiel Gottes vielleicht, mit dem er uns nur zeigen will, wie schnell es zu Ende gehen kann mit dem Leben auf der Erde, wenn wir nicht behutsam damit umgehen. 

Nein, ich glaube nicht, dass wir uns blind auf Gott verlassen können. Ich glaube vielmehr, dass Gott ohnmächtig und enttäuscht zusieht, wie wir mit unserem Planeten, wie wir mit unserer Zukunft umgehen. Ich befürchte, dass er denkt: ich habe Euch alles gegeben, was ihr braucht. Wenn ihr nun mehr wollt, dann müsst ihr mit den Folgen leben, dann kann ich Euch nicht mehr helfen. 

Wenn ihr, liebe Brüder und Schwestern, mir jetzt entgegen haltet, dass im ersten Buch Mose ja steht: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte“, und wenn ihr glaubt, dass damit unsere Zukunft gesichert ist, dann bitte ich Euch, genauer hinzuhören. „Solange die Erde steht...“ heißt es, und nicht: „Auf der Erde wird es immer geben...“. Und es heißt auch: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören...“ und nicht: „Solange die Erde steht, wird nicht aufhören...“. Damit gibt Gott uns eine Chance, aber keine Garantie. 

Wir können uns nicht einfach aus der Verantwortung stehlen und so tun, als ob das alles Gottes Wille wäre, auch die unglaublichen Verluste an Lebensräumen für Pflanzen und Tiere. Gott kann nicht wollen, dass der Mensch die Schöpfung zerstört; aber, und das ist unser Verhängnis, er lässt es zu! Weil er uns Vernunft gegeben hat, weil er uns erwachsen gemacht hat. Weil er uns aus dem Schutz des Paradieses entlassen hat - sein größter und vielleicht einziger Fehler! 

(Und das sage ich jetzt nicht, weil ich lieber im Paradies gelebt hätte, mit der Unbeschwertheit Adams und umgeben von Löwen, Gazellen und Palmen. Und Eva vielleicht) 

Gott hat uns mündig gemacht, und deshalb lässt er uns gewähren, wenn auch mit Schmerzen und Zorn vielleicht, jedenfalls würde ich mir einen zornigen Gott wünschen. Einen zornigen Gott, der mit ansehen muss, wie wir aus dem Paradies eine Welt machen, die dominiert wird von der Vision ungebremster Pferdestärken, ungebremster Geschwindigkeit, ungebremsten Wachstums und ungebremster Verantwortungslosigkeit. 

Kürzlich sah ich in einer überregionalen und durchaus seriösen deutschen Tageszeitung eine große Anzeige, mit der auch deutsche Firmen für Investoren in Asien werben.  Dort heißt es: „Schaffen Sie sich Zugriff auf die am schnellst wachsenden Regionen der Welt“. Welch ein Zynismus. Schon der Begriff „Zugriff“!  Damit verbinde ich die Montage vor der Nikolaikirche 1989, wenn wir betend um die Nikolaikirche liefen, bis das Kommando „Zugriff“ über den Platz schallte und Christen wahllos auf die Polizei-Lkws gezerrt wurden. Und dann der Begriff „2 Mrd. Verbraucher“. Nicht mehr von Menschen ist hier die Rede, sondern von Verbrauchern. Im Klartext heißt das: liebe Moped-, Kühlschrank- und Fernsehgerätehersteller, dort in Asien gibt’s bald was zu verdienen. Dort warten aber nicht nur 2 Mrd. Verbraucher, sondern auch 2 Mrd. Produzenten, die zum Teil für Hungerlöhne die Produkte herstellen, die sie dann wegen der niedrigen Löhne gar nicht selbst kaufen können. 

Das nennt man Brasilianisierung, liebe Gemeinde. Immer weniger Menschen werden an immer mehr Menschen verdienen, und immer weniger Menschen werden reich sein oder reich bleiben auf Kosten immer mehr armer Menschen. Schon heute verfügen 20% Prozent der Menschheit über 80% des Reichtums. Aus der Zukunft des Lebens wird eine Zukunft des Überlebens, das ist der kleine, aber entscheidende Unterschied. 

Adam und Eva haben das Paradies verlassen, aber sie konnten nicht ahnen, dass aus ihrem gegenseitigen Erkennen eine Massenbewegung würde, die nicht einmal die Sintflut aufhalten konnte. Eine Massenbewegung, die in absehbarer Zeit aus dem Paradies „ERDE“ einen kollabierenden Planeten machen kann, dem in 30 bis 50 Jahren dann mit 9 bis 10 Milliarden Menschen zwar nicht die Luft ausgehen wird, aber das Wasser, die Nahrung und die natürliche Sonnencreme gegen die UV Strahlung, im Sommer und Winter, solange die Erde steht. 

Wieso kann Gott das dulden? Wieso kann er zusehen, wie seine mühevolle und  wunderbare Schöpfung den Bach hinuntergeht? Weil er wahrscheinlich weiß, dass die Natur das Chaos überleben wird, dass die Natur bleibt, nur in anderer Form und mit anderen Wesen, oder soll ich sagen: anderem Wesen? Aber Schildkröten wird es nicht mehr geben, Eisbären und Pinguine nicht mehr, Kabeljau und Scholle nicht mehr, und Gorillas auch nicht mehr. 

Um das Phänomen der komplexen Naturzerstörung zu beschreiben, und damit meine ich gar nicht so sehr die Sünden vor unserer eigenen Haustür, sondern die grandiosen Kahlschläge in den Regenwäldern oder die Zerstörung der einzigartigen Korallenriffe, will ich einen Vergleich benutzen, einen Vergleich, der nicht einmal hinkt. Man stelle sich vor, ein ganz normaler, also nicht etwa geistig verwirrter Familienvater entfernt monatlich im Familieneigenheim ein Stück Mauerwerk oder ein winziges Stück vom Dach, einen Heizkörper vielleicht oder einen Wasserhahn, um diese Dinge dann auf dem Flohmarkt zu verhökern. Irgendwann beginnt es im Haus ungemütlich zu werden, es regnet in das Kinderzimmer, es wird kalt im Winter und bald gibt es kein Trinkwasser mehr. Die Kinder kommen ins Heim, die Haustiere werden beschlagnahmt. Es wird einsam im Haus. Dieser Familienvater stellt fest, dass er zwar kurzfristig sein Taschengeld  auf dem Flohmarkt aufbessern konnte, aber er hat keine Familie mehr. Denn sein Haus ist unbewohnbar geworden. 

Vermutlich werden Sie, liebe Hausbewohner, liebe Bewohner dieses Gotteshauses, jetzt denken, na ja, das ist wohl ziemlich überspitzt. Wir wissen zwar, dass es Probleme mit der Umwelt gibt, aber das haben oder das kriegen wir doch locker in den Griff. Glauben sie aber auch noch an Übertreibung, wenn sie wissen, dass nach wie vor stündlich 10 qkm Regenwald endgültig zerstört werden?  Glauben sie an Übertreibung, wenn stündlich oder bestenfalls auch nur täglich 3 Tier- und Pflanzenarten von der Erde unwiederbringlich verschwinden? Die wir Menschen ausrotten, obwohl wir keinerlei Recht darauf haben? Schon gar kein moralisches, kein christliches Recht. Denn „macht Euch die Erde untertan“ heißt eben nicht: „macht die Erde kaputt“. „Untertan“ ist hier nicht im Sinne von „untertänig“, von „Unterdrückung“ gemeint, sondern zweifellos im Sinne von „Verantwortung“, von „Bewahrung“. Ein guter Herr sorgt für seinen Untertan, er macht ihn nicht kaputt. Macht Euch die Erde untertan, aber macht sie nicht zu Eurem Sklaven. 

Warum sorgt Gott nicht dafür, dass die Menschen die Natur leben lassen, sie bewahren? 

Weil der Mensch nur ein Teil der Schöpfung ist, und weil Gott nicht ahnen konnte, dass dieser winzige Teil der Schöpfung, mit dem er allerdings ziemlich viel Aufwand getrieben hat, dass dieses Geschöpf Mensch ihn zweimal verraten würde: durch den Verrat an seinem Sohn und zweitausend Jahre später durch den Verrat an der Natur, an der Vielfalt der Schöpfung. Und da wird Gott denken wie ein Vater: nur durch Schaden könnt ihr klug werden. Doch hier liegt wohl der tragische, der göttliche Irrtum. Noch niemals in der Geschichte ist der Mensch aus Schaden klug geworden, noch niemals! 

Ein Beispiel gefällig? Bleiben wir beim Wald. Als die Bewohner der Osterinseln für ihre unzähligen, überdimensionalen Götzenfiguren den Wald abgehackt hatten, waren die Osterinseln, welche Überraschung, plötzlich kahl und das Ende dieser Kultur wurde eingeläutet. Überlebt haben zwar die Figuren, aber nicht ihre Erbauer. Wären die Bewohner der Osterinseln allerdings Christen gewesen, hätten sie wenigstens ein paar Bäume stehen gelassen, um ihre Ostereier dahinter zu verstecken... 

Liebe Gemeinde,  wie soll die Zukunft des Lebens, wie soll die Zukunft unseres Lebens sein?  Soll sie soziale Gerechtigkeit bringen oder die „Rette sich wer kann Mentalität“? Soll sie ein Leben in maßvollem Komfort sein oder in maßlosem Luxus? Um nicht missverstanden zu werden, mit maßvollem Komfort meine ich nicht ein Leben in Blockhütten in der unberührten Natur (obwohl auch das sehr reizvoll sein kann), sondern durchaus ein Leben mit den modernen Errungenschaften, mit Straßen und Autos, mit Hotels und Flugzeugen, mit Konzerthallen und Museen. Aber bitte mit Straßen, die nicht in jeden letzten Winkel oder an jede Startbahn führen, mit Autos, die maximal zwei und nicht vier Auspuffrohre haben, mit Hotels, in denen es Milch aus der Kanne und nicht aus Plastikbechern gibt, mit Flugzeugen, die nicht vor jeder Haustüre starten und landen und mit Konzerthallen und Museen, die nicht auf Kosten der Nachhaltigkeit entstehen. 

Wie z.B. die Frauenkirche in Dresden, mit der sich einige Menschen ein Denkmal gesetzt haben, ähnlich wie schon im Mittelalter. Oh Gott! Oh Gott - werden sie jetzt wieder denken - ist der Adler denn noch zu retten? Jetzt wettert er gegen die Frauenkirche, dieses prächtige, historisch wertvolle Gotteshaus. Liebe Gemeinde, ich bin nicht prinzipiell gegen den Wiederaufbau der Frauenkirche, obwohl sie aus meiner Sicht als Ruine mehr zum Nachdenken über die Opfer des Krieges und der DDR-Willkür anregen konnte. Ich frage mich nur, welche Bedeutung die Frauenkirche in 50 oder 100 Jahren haben wird, wenn die Menschen mit dem drohenden Klimakollaps beschäftigt sein werden. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Frost und Hitze. Von Überhitzung steht nichts bei Moses. 

Ob sich dann unsere Kinder, unsere Enkel nicht fragen werden, wieso die Menschen damals (also wir heute) nicht daran gedacht haben, dass man in einer Kirche kein Getreide anbauen kann, kein neues Erdöl produzieren und kein Wasser zurückgewinnen kann. Ich wäre froh, wenn die Erbauer der Frauenkirche einen kleinen Teil ihres finanziellen und ideellen Engagements in ein Zukunftsprojekt gesteckt hätten, sozusagen eine nachhaltige Frauenkirche gebaut hätten. Aber wer gibt schon gern Geld für etwas, dass er nicht sehen oder anfassen oder anstaunen kann. 

Die Begeisterung der Menschen bei der Eröffnung der Frauenkirche, die Ahs und Ohs, die Ehrfurcht vor dieser gewaltigen Leistung („wie ein Donnerhall“ sagte kürzlich ein überwältigter Besucher – wie Recht er hat), das alles ist real, da kann ich stolz sein, das ist zum Anschauen, zum Anstaunen, das ist wahrhaftige Größe menschlicher Kreativität, menschlichen Engagements. Ist es das, liebe Gemeinde?  Ist nicht eher die Bewahrung der göttlichen Schöpfung das größte, das ewig wichtige, die unbedingte Pflicht aller Menschen? Aller Menschen zumindest, die dazu in der Lage wären, die dazu in der Lage sind. 

Gott hat uns die Natur gegeben, Darwin hat sie uns erklärt. Zur Natur haben die Menschen die Kultur geschaffen, so vielfältig wie unser Leben, so vielfältig wie das Leben auf dieser Erde. Und nun haben wir den Auftrag, beides zu bewahren, die Natur und die Kultur. BEIDES, liebe Gemeinde, liebe Christen in Münster, liebe Münsteraner, egal welchen Glaubens. Tag und Nacht, solange die Erde steht. 

Als Moses zu seinem Volk sprach und ihm die zehn Gebote gab, vergaß er eins – nein, Gott hatte ihm ein Gebot nicht genannt, denn Gott konnte nicht ahnen, dass die Menschen Hand an seine Schöpfung legen würden. Gott hatte Mord geahnt, er hatte Lüge und Ehebruch geahnt, er hatte die Unvollkommenheit des Menschen vorhergesehen. Aber niemals, niemals hätte er ahnen können, dass der Mensch seine eigene Existenz vernichten würde. Sonst hätte sein elftes Gebot gelautet: Du sollst nicht zerstören diese Welt, Du sollst nicht aus Gier, nicht aus Unvernunft  Pflanzen brechen oder Tiere verstummen lassen. Du sollst nicht Deine Macht, Deine Stärke gegen die Schöpfung missbrauchen. 

Und vielleicht noch weiter: Du sollst keine Flüsse in ihrem Lauf stören, Du sollst den Regenwald nicht Tränen regnen lassen, Du sollst einen Zehnt Deines Reichtums der Natur schenken, Du sollst an die Zukunft des Lebens, an die Zukunft Deiner Kinder denken. Du sollst meine Schöpfung bewundern und nicht nur Deine eigenen Werke. 

Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Diese Hoffnung, liebe Gemeinde, diese Hoffnung auf die Bewahrung der Natur, die Zukunft unseres Lebens gebe ich nicht auf, dafür lohnt es sich zu leben, dafür lohnt es sich zu beten und dafür lohnt es sich zu kämpfen. 

AMEN