Stadtpredigt I, Sonntag 1. Juni 2008
Pfarrer Dr. Werner M. Ruschke,
Vorstandsvorsitzender des Ev. Perthes-Werkes
Selbstbestimmung und Freiheit
Galater 5, 1+13f
Klaus Vetter, Orgel

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, liebe Gemeinde!
„Selbstbestimmung und Freiheit? Danach können Sie mich in zwei Jahren fragen, dann bin ich im Ruhestand.“ So antwortete mir ein Bekannter, als ich ihn fragte, was er mit Selbstbestimmung und Freiheit verbinde. – Ein anderer meinte: „Die beiden Begriffe beinhalten ein und dasselbe. Sie erklären sich gegenseitig: Nur wer frei ist, kann selbstbestimmt leben, und nur wer über sich selbst bestimmt, lebt frei.“ – Ein dritter schließlich meinte lächelnd: „Selbstbestimmung und Freiheit kenne ich beide nicht, weil: Ich bin verheiratet.“
Selbstbestimmung und Freiheit, eine Sache des Ruhestandes? Da ist etwas Wahres dran, denn: Wer arbeiten muss, erfährt auch Fremdbestimmung und Unfreiheit. Andere bestimmen, was wann wie zu tun ist. – Diese Art von Fremdbestimmung und Unfreiheit ist mit dem Ruhestand vorbei. Andere und gewichtigere Arten hingegen bleiben: Die Abhängigkeit von der politischen Großwetterlage: Krieg oder Frieden. Von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung: Steigerung oder Minderung des eigenen Einkommens. Von der Familie, in der ich aufgewachsen bin, von Erziehung und Bildung, von Krankheit oder Gesundheit. Und vom Erbgut, das mich zeitlebens prägt. Neuerdings behaupten einige Hirnforscher sogar, im Grunde sei das Verhalten eines jeden Menschen durch ihn nicht beeinflussbar, sondern durch biologische Prozesse vorherbestimmt. Es gäbe somit gar keinen freien Willen, und streng genommen könne ein Mensch deshalb nicht für seine Taten verantwortlich gemacht werden. – Ob das nun zutrifft oder nicht, je länger ich über Selbstbestimmung und Freiheit
nachdenke, desto deutlicher wird mir: Ich bin immer und in jeder Lebenssituation
zu einem großen Teil fremd bestimmt und unfrei.
Wie verständlich ist da der Wunsch, der Traum, die Hoffnung von Ingeborg Bachmann, von der wir eben in der Lesung gehört haben: „Ein Tag wird kommen, die Menschen werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein. … Es wird eine größere Freiheit sein, sie wird über die Maßen sein, sie wird für ein ganzes Leben sein.“
Bis dieser Tag anbricht haben wir in Vorfreude darauf die Aufgabe, angesichts von Fremdbestimmungen und Unfreiheiten das Maß unserer Selbstbestimmung und Freiheit zu vergrößern. Wir haben diese Aufgabe deshalb, weil nach biblischem Verständnis Gott es ist, der den Menschen Freiheit schenkt und ermöglicht. Befreiung zur Freiheit, das ist die Ur-Erfahrung Israels mit seinem Gott. Daran erinnert Gott in seinem Vor-Satz zu den Zehn Geboten: „Ich bin der
Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ (2. Mose 20,2) Und dann folgen die Zehn Gebote. Sie sind Wegweiser zur Freiheit. Sie benennen Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, weil damit die Freiheiten anderer Menschen verletzt oder zerstört würden. Die Gebote Gottes begrenzen die Freiheit und eröffnen zugleich jenen weiten Raum, in dem wir in Freiheit und Verantwortung unser Leben zu gestalten haben.
Freiheit kann nur gelingen und gelebt werden, wenn ihre Grenzen anerkannt und beachtet werden. Freiheit ist nie grenzenlos, sondern immer begrenzt. Ein bedeutender Kultursoziologe (Norbert Elias) ist überzeugt, dass der Prozess der Zivilisation zur Voraussetzung hat, dass ein bestimmter „Fremdzwang“ anerkannt und übernommen wird als „Selbstzwang“. Ähnlich hat ein Philosoph (Hegel) die Freiheit bestimmt als „Einsicht in die Notwendigkeit“. Christenmenschen ist die Einsicht geschenkt in die Freiheit ermöglichende Notwendigkeit der Gebote Gottes.
Nun merken wir, dass Selbstbestimmung und Freiheit christlich verstanden doch nicht ein und dasselbe sind. Nicht wir bestimmen selbst, was Freiheit ist, sondern Gott bestimmt unseren Freiraum. Von daher ist Selbstbestimmung und Freiheit nur bedingt ein christliches Begriffspaar. Genauer muss es heißen: Gottesbestimmung und Freiheit.
Und wir merken, welch hohen Wahrheitsanteil jene Bemerkung meines dritten Gesprächspartners hat, er kenne weder Selbstbestimmung noch Freiheit, weil er verheiratet sei. Wer verheiratet ist oder in enger Partnerschaft lebt, der ist ja darauf bedacht, die Freiheit des anderen nicht einzuschränken, sondern zu erweitern, der erfährt in dieser wechselseitigen Abhängigkeit nicht einen Verlust, sondern einen Zugewinn an Freiheit. „Freiheit ist immer Freiheit des Anderen“, hat jemand (Rosa Luxemburg) zutreffend gesagt, und ich ergänze: Freiheit ist immer Freiheit mit Anderen, für Andere und durch Andere.
Diese Eigenart, diese eigenartige Wechselbeziehung von eigener Freiheit, die sich Gott verbunden weiß sowie zugleich der Freiheit des Mitmenschen, sie macht das Wesen christlicher Freiheit aus. Damit knüpfe ich an Martin Luther und seine bedeutsame Schrift an „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Darin sagt Luther sinngemäß: Durch seinen Glauben an Gott gewinnt ein Christenmensch innere Unabhängigkeit. Und dann wörtlich: „Ein Christenmensch ist ein völlig freier Herr über Alles und Niemandem untertan.“ Durch seine Abhängigkeit von Gott aber fühlt sich ein Christenmensch gelockt und herausgefordert zur Nächstenliebe. Darum fügt Luther sogleich hinzu: „Ein Christenmensch ist ein völlig dienstbarer Knecht und Jedermann untertan.“ Wer diese Spannung von Selbstbestimmung und Gottesbestimmung, von Freiheit und Abhängigkeit aushält und gestaltet, der lebt in der – wie Paulus (Römer 8, 21) es einmal nennt – „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“.
Was dies heißt, das hat Jesus Christus eindrücklich vorgelebt. Jesus lebt die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Jesus ist die personifizierte Freiheitsbewegung Gottes. Als Hinweis auf Gottes Freiheit befreit er Menschen
von seelischen und körperlichen Krankheiten, überwindet er religiöse und soziale Barrieren, indem er Umgang hat mit Zöllnern und Sündern, indem er Menschen ihre Schuld vergibt. Wer sich auf Jesus Christus einlässt und wer sich an ihn hält, der atmet den Geist der Freiheit, der bleibt kein krummes Holz, der wird befreit zum aufrechten Gang.
Gott schenkt uns Freiheit, er mutet uns Freiheit zu und ermutigt uns, mit dieser Freiheit, mit diesem Spielraum verantwortungsvoll umzugehen. Leben aus dem Glauben heißt, sich auf das Wagnis der Freiheit für mich und für Andere vertrauensvoll einzulassen.
Das beinhaltet die Bereitschaft zum Umlernen, Umdenken und Umhandeln, etwa im Bereich der Diakonie. Lange, lange Zeit haben wir in der Diakonie gemeint, wir Helfer wüssten am Besten, was für die damals sogenannten „Zöglinge“ und „Insassen“ unserer Einrichtungen am Besten sei. Die Diakonie ist gerade erst dabei, ihre jahrzehntelange Schuldgeschichte aufzuarbeiten. Im Bereich der Jugendhilfe berichten alt gewordene Betroffene nach langem Schweigen, wie sie seinerzeit drangsaliert und unterdrückt wurden, wie sie unter freiheitsentziehenden Maßnahmen gelitten haben. Ähnliches gilt für den Bereich der Nichtsesshaftenhilfe.
Im Bereich der Behindertenhilfe und der Altenhilfe sind wir erst seit etwa 25 Jahren dabei, den Willen der unmittelbar Betroffenen gezielt zu erfragen und zum Maßstab für unser diakonisches Handeln zu machen. Mühsam etwa haben wir gelernt, dass auch behinderte Menschen einen Anspruch auf Sexualität haben. Mühen bereitet es in der Altenhilfe, die Dienstpläne so zu gestalten, das nicht die Interessen der Mitarbeitenden, sondern die der betreuten Menschen an erster Stelle stehen. Es ist nach wie vor nicht überall üblich, in Altenheimen die Essenspläne und –zeiten mit den Bewohnerinnen und Bewohnern abzustimmen. Und sehr mühsam erlernen wir die Sprache von dementen Bewohnerinnen und Bewohnern, um sie als eigenständige Persönlichkeiten mit ihren Wünschen ernst zu nehmen. – Freiheit in diesem Sinne zu gestalten, ist mühsam, dazu braucht es
viel Kraft und Mut; Freiheit ist auch in diesem Sinne eine Zumutung.
Vor zwanzig Jahren habe ich in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel gearbeitet. Neben meiner eigentlichen Tätigkeit war ich an einem Nachmittag in der Woche in einem der Bethel-Häuser als Seelsorger tätig. Mein Haus war Siloah mit mehrfach-schwerstbehinderten Bewohnerinnen und Bewohnern. Viele von ihnen waren orientierungslos. Wenn sie ohne Begleitung außer Haus waren, wussten sie bald nicht mehr, wo sie sich befanden, liefen ängstlich und hilflos umher. Um ein unbegleitetes Herauslaufen zu verhindern, waren die Türen zu den Wohnbereichen ständig abgeschlossen.
Einer der Bewohner, der noch über ein gewisses Orientierungsvermögen verfügte, wartete nun geradezu darauf, dass jemand vergaß, die Türen abzuschließen. Dann nutzte er die Gelegenheit zur Flucht und versteckte sich
irgendwo draußen, und die Mitarbeitenden hatten viel Mühe, ihn zu finden. Da hatte eine junge Mitarbeiterin die ungewöhnliche und kühne Idee: Wir geben diesem Bewohner einen eigenen Schlüssel und schauen einmal was passiert. – Weil die Freiheitsbeschränkung diesen Bewohner nicht am Fortlaufen hindern konnte, versuchte man es nun mit einer Freiheitseröffnung. Und siehe da, von Stund an ist er nie wieder geflohen, um sich zu verstecken. Wenn ihm danach war, öffnete er die Tür und ging vors Haus, um nach einem Spaziergang wieder zurückzukehren. Zumeist erwartete er mich an meinem wöchentlichen Siloah-Tag vor dem Haus, schloss mir die Tür auf, und wenn ich ging, schloss er sie wieder hinter mir zu. Wenn man ihn länger kannte, konnte man sein Sprechen verstehen. Einmal erklärte er mir in der ihm eigenen stockenden Sprechweise: „Pastor Ruschke, ich schließe deshalb hinter Dir zu, weil Du es ja vergessen könntest. Und dann laufen die Bewohner nach draußen und bekommen Angst und müssen gesucht werden.“
Freiheit ist zugetraute und zugemutete Freiheit. Gott traut uns zu, dass wir mit der uns geschenkten und ermöglichten Freiheit angemessen für uns und Andere umgehen.
Diese Dialektik ist nach christlichem Verständnis der Kern von Selbstbestimmung und Freiheit. Wer sich in der Kraft des Glaubens auf diese Freiheit einlässt, der erlernt die Kunst des Lebens. All das ist Inhalt von christlicher
Freiheit, die Paulus in Galater 5 (1+13f) so beschreibt:
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Ihr aber seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht euren sündigen Neigungen Raum gebt; sondern durch die Liebe diene einer dem andern.“
Amen.