Stadtpredigt II, Sonntag 8. Juni 2008
Prof. Dr. Wilfried Engemann, Münster,
Ordinarius für praktische Theologie an der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster
Leben aus Liebe und in Freiheit
Über die Bedeutung des Glaubens für unser Lebensgefühl
Bezugstext: Johannes 4,1-42
Altersoffener Chor Münster, AchoM
Leitung: Klaus Vetter
Klaus Vetter, Orgel

1. PROLOG: GLAUBEN – EIN GUTES GEFÜHL FÜR DAS EIGENE LEBEN
Die am häufigsten gestellte Frage ist die Frage nach unserem Ergehen. Wo immer sich Menschen begegnen und sich grüßen, ist Zeit für diese anscheinend wichtige Frage: „Wie geht es dir?“
Diese Frage betrifft nicht nur unseren Gesundheitszustand oder unsere geistige Tageskondition, sondern ganz allgemein unser Lebensgefühl. Von diesem Gefühl hängt es nämlich ab, wie wir uns in unserem Leben überhaupt fühlen, ob wir es schätzen oder ob wir es leid sind, ob wir leidenschaftlich leben oder ob wir uns wie in einer fremden Welt vorkommen – als wären wir sozusagen nur zu Besuch in unserem Leben. Unser Lebensgefühl spielt also eine entscheidende Rolle bei der subjektiven Bewertung unseres Lebens. Es ist eine Art „gefühltes Fazit“ im Blick auf unser Dasein. Ob wir es gut finden oder schlecht, wird in unserem Lebensgefühl manifest.
Deshalb ist uns unser Lebensgefühl auch nicht gleichgültig. Im Gegenteil: Alles, was wir tun und lassen, alles was durch uns oder mit unserer Beteiligung geschieht, soll sich natürlich auch positiv auf unser Lebensgefühl auswirken. Das setzt voraus, dass wir gern tun, was wir tun, dass es unserem Willen entspricht, dass wir es aus Liebe tun, leidenschaftlich – jedenfalls nicht gegen besseres Wissen oder gegen unsere Überzeugung oder aus Angst. Wir wissen, dass sich unser Lebensgefühl dann prompt verschlechtert. Es ist kein Zufall, dass die Frage nach dem Ergehen in unseren Begrüßungsritualen immer wieder aufscheint – auch wenn wir auf die Frage „Wie geht’s?“ in der Regel keine ausführliche Schilderung einer momentanen Befindlichkeit erwarten; wir sind eher überrascht, wenn jemand den Hintersinn dieser Frage ernst nimmt und die Gelegenheit nutzt, sich einmal auszusprechen.
„Wie geht’s dir mit deinem Leben?“ Diese Frage hat eine scheinbar passive Komponente: „Wie geht es dir?“ Das hört sich so an, als komme unser Leben halt einmal so und einmal so daher, was dann dazu führte, dass es uns einmal so und einmal so erginge. „C’ est la vie“, sagt man in Frankreich. „Das ist das Leben!“ Es kommt wie’s kommt. Dabei wissen wir schon: Unser Lebensgefühl ist kein Sechser im Lotto; es hängt in starkem Maße auch von uns ab – davon zum Beispiel, wie wir auf bestimmte Lebensumstände
reagieren, sie mögen sein, wie sie wollen. Sogar im Gefängnis können Menschen sich in ihrem eigenen Leben gut fühlen, zu Hause sein, große Freiheit erfahren und tiefe Liebe empfinden – wie der Brief von Paulus an die Philipper oder die Briefe aus dem Gefängnis von Rosa Luxemburg zeigen.
Nun könnte man sagen: Rosa und Paul haben ja schließlich ihren Glauben. Aber so einfach ist es nicht. Viele Menschen, die von sich sagen können, zu glauben, können nicht zugleich von sich sagen, dass sie gerne lebten oder ein gutes Lebensgefühl hätten. Oftmals scheint der Glaube – etwa an ein späteres besseres Leben – geradezu ein erhoffter Ersatz für ein sich heute gar nicht gut anfühlendes Leben zu sein.
Es hängt für unser Daseinsgefühl anscheinend einiges davon ab, ob wir uns – soweit wir über unseren Glauben überhaupt nachdenken – einen Glauben aneignen, der uns darin unterstützt, leidenschaftlich zu leben, oder ob wir uns mit einem Glauben herumschlagen, der sich auf das Für-Wahrscheinlich-Halten möglichst unwahrscheinlicher Dogmen beschränkt, die für unser Lebensgefühl gar nichts abzuwerfen scheinen – oder an denen unser Lebensgefühl sogar Schaden nehmen kann.
In der Glaubens- und Theologiegeschichte des Christentums hat es immer wieder Phasen gegeben, wo das Festhalten an Gewissheiten und Wahrheiten zum Kern des Glaubens erklärt wurde. Die Bibel erzählt aber wesentlich vielfältiger vom Glauben, und sie erzählt so vom Glauben, dass der Glaube niemals als Selbstzweck oder ideologisches Besitztum einer religiösen Gruppe erscheint. Es geht beim Glauben erst recht nicht um eine Kultivierung letzter oder ewiger Gewissheiten, die man hat, um sich von anderen zu unterscheiden, die diese Gewissheiten nicht teilen. Der Glaube steht immer im Dienste des Lebens jetzt und hier. Er ist Mittel zum Zweck. Er soll Menschen bei der Aneignung ihrer Freiheit beistehen und sie zum Gewähren und Empfangen von Liebe befähigen. Der Glaube soll Menschen darin unterstützen, ein gutes Gefühl für ihr Leben zu entwickeln, sich dem Leben ganz zuzuwenden, es lieben zu können und sich in dieses Leben ohne Angst hineinzuwerfen.
Dazu wird uns im 4. Kapitel des Johannesevangelium eine bemerkenswerte Geschichte erzählt:

2. EIN GESPRÄCH ÜBER DIE RÜCKKEHR INS LEBEN
Auf dem Rückweg von Judäa nach Galiläa kommt Jesus mit seinen Jüngern – so wird erzählt – um die Mittagszeit in die Nähe der samaritanischen Stadt Sychar (unweit der heutigen Stadt Nablus). Erschöpft setzt er sich am Jakobsbrunnen vor den Toren der Stadt nieder. Während seine Schüler in der Stadt Lebensmittel besorgen, kommt eine Frau zum Brunnen, um Wasser zu holen. Um diese Zeit, in der größten Hitze des Tages, holt man eigentlich kein Wasser, es sei denn, man will dort niemanden treffen und mit sich allein sein. Die Frau hat ihre Gründe. Ihr Leben ist ihr fremd geworden; es fühlt sich wirklich nicht gut an: Sie ist nicht mehr Herrin im eigenen Haus. Sie wurde ausgenutzt und fristet ihr Dasein als Nebenfrau, Geliebte und Mädchen für alles – alles in einer Person.
Aber nun sitzt da einer – und verwickelt sie auch noch in ein Gespräch.
Warum hält er nicht einfach den Mund!? Schließlich gelten die Beziehungen zwischen Juden und Samaritanern als vergiftet; daran kann man sich doch halten! Wieso ignoriert er alle Tabus und bittet nun auch noch um Wasser? – Das fragt sich die Samaritanerin und hält es ihm vor. „Es geht ja auch nicht nur um Trinkwasser, wenn wir beide hier miteinander reden“, entgegnet Jesus vieldeutig. „Mir jedenfalls geht es darum, dass Menschen nicht an Lebensdurst zugrunde gehen, dass sie nicht auf die Erquickungen verzichten, die mit Freiheit und Liebe einhergehen. Mehr noch: Ich bin überzeugt, dass du jemand bist, aus dem Lebenswasser für andere hervorquellen kann, und dass du jemand sein kannst, der sich dabei selber seines Lebens freut. Willst du?“
Es ist fast wie etwa 1750 Jahre zuvor, bei der Brautwerbung für Jakob; da kam schon einmal eine Frau an diesen Brunnen und wurde plötzlich von einem Fremden angesprochen. Und es ging auch um Liebe und Freiheit. – „Willst Du?“, klingt es ihr noch im Ohr. Natürlich will sie! Aber statt ihr nun weiterzuhelfen, bittet er sie, sie möge ihren Mann herzuholen. Das bringt sie in Verlegenheit; denn da kommen mehrere Männer in Betracht. Und was soll diese Frage überhaupt!? Sie vermutet natürlich, dass etwas mit ihrer Frömmigkeit nicht stimmt und fragt zögernd zurück, ob man sich – um auf die richtige Weise religiös zu sein und um an solches Lebenswasser heranzukommen – an bestimmte Kultorte halten muss. Jesus verneint diese Frage und hält ihr entgegen: „Das spielt keine Rolle, wenn nur dein Glaube vom Geist der Freiheit und der Liebe bestimmt ist. Deswegen habe ich dich an deine Männer erinnert, an deine Unfreiheit, an deinen Mangel
an Liebe, an dein taubes Lebensgefühl.“
Das Gespräch ist noch nicht zu Ende, da spürt diese Frau, dass ihr Leben sich schon etwas anders anfühlt als zuvor. Sie freut sich, dass sie da ist. Sie sieht eine Zukunft für sich, sie spürt, wie sich ihr Leben wieder nach vorn hin öffnet. Ihre Neugier erwacht. Die Aufmerksamkeit, mit der sie auf ihr eigenes Leben angesprochen wurde, tut ihr gut. Als sie vom Brunnen weggeht, ist es ihr, als würde sie erste Schritte in die Freiheit tun; und sie kann sich selbst wieder leiden. Ihre verloren gegangene Selbstliebe wurzelt wieder.
Der Rest ist schnell erzählt: Sie kehrt nach Hause zurück. Das heißt – zu Hause hält sie es vor Glück nicht aus. Sie wirft sich in ihr Leben, indem sie auf die Straße geht und zur Botin eines leidenschaftlichen Lebens wird. Sie geht bei ihren Nachbarn vorbei und ruft ihnen zu: „Beeilt euch! Da draußen am Brunnen vor dem Tore sitzt einer und eröffnet Einsichten in eine menschliche Religion – und in einen Glauben, der zu einem Leben in Freiheit und Liebe befähigt. Das muss der Christus sein.“ Sie weiß vor überströmender Freude und Lebenslust nicht, wohin.

3. FREIHEIT UND LIEBE ALS BEWEGGRÜNDE DES LEBENS
Was ist hier eigentlich geschehen? Das Lebensgefühl dieser Frau hat sich grundlegend verändert. Ihr Glaube hat sich verändert – und ihr Verständnis von Religion. In der Geschichte von der Begegnung zwischen der Samaritanerin und Jesus wird erzählt, dass Religion und Glaube für das Leben da sind, und dass nicht umgekehrt das Leben im Dienst des Glaubens steht. Sogenannte wahre Religion, wahrer Glaube, erweisen sich darin als wahr, dass sie einem dabei helfen, ins eigene Lebens hinein zu kommen, dass sie am Leben halten – dass sie lebensdienlich sind. Und lebensdienlicher Glaube ist nur solcher Glaube, der in die Freiheit führt und zur Liebe befähigt. Dieser Glaube wird von Johannes, dem Evangelisten, deshalb mit Wahrheit gleichgesetzt, weil er die Menschen, die ihn haben, in der Freiheit bewahrt und in der Liebe hält. Nur der Glaube, der den Menschen in diesem Sinne wahrt, ist wahrer, das heißt wahrender Glaube. Wahrheit hat mit Wahren und Bewahren zu tun; deshalb braucht niemand seine Wahrheit zu fürchten. Und deshalb ist auch diese Frau durchaus nicht frustriert, als sie im Gespräch mit ihrer Wahrheit konfrontiert wird.
Dass es bei dieser Wahrheit vor allem um Erfahrungen mit der Freiheit und mit der Liebe geht, ergibt sich zunächst aus der Geschichte selbst: Was jene Frau bedrückt, sind Erfahrungen der Unfreiheit einerseits und Erfahrungen
von verweigerter, entzogener oder zerstörter Liebe andererseits:
Was ihre Unfreiheit betrifft: Das Leben, das sie lebt, stimmt nicht überein mit dem Leben, dass sie sich wünscht; sie hat sich – sei es aus Angst, auf Drohungen hin oder aus Bequemlichkeit – auf Lebensverhältnisse eingelassen, in denen sie sich als unfrei erfährt. Sie sagt ihren Männern etwas anderes, als sie denkt; und sie tut Dinge, die sich eigentlich nicht will. Sie wird gelebt. Sie ist in ihrem eigenen Leben nicht mehr zu Haus. Vielleicht ist das die intensivste Form der Unfreiheit, die ein Mensch erfahren kann.
Und dann sind da ihre eigentümlichen Beziehungen, in denen das wechselseitige Gewähren und Empfangen von Zuwendung zum Erliegen gekommen ist – die Liebe als die wichtigste Ressource des Menschen. „Liebe“ kann sich in allen möglichen Formen sozialer Zuwendung äußern, durch die Menschen Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren und gewähren: Durch Beziehungen zu Kollegen, zu Freunden, zur Familie, zum Partner. Im Leben dieser Frau, die sich durch menschenleere Straßen auf den Weg zum Brunnen macht, herrscht Einbahnverkehr: Sie gibt alles und es kommt nichts zurück. Und das Traurigste daran: Sie kann sich auch selbst nicht mehr lieben. Sie hat den Respekt vor sich selbst verloren. Anfangs hat sie sich noch gefragt, wieso sie das eigentlich mitmacht mit all diesen Kerlen. Es ist jetzt schon der sechste. Doch irgendwann hat sie angefangen, deren Gerede zu glauben: „Du taugst halt nichts!“ In dieser Haltung begegnet sie diesem Mann am Brunnen. Es könnte der siebte werden, denkt sie für einen Moment, aber dann sagt sie nur: „Wieso redest du überhaupt
mit mir. Ignorier’ mich einfach. Ich bin gleich wieder weg.“
Aber wir müssen hier gar nicht weiter spekulieren. Da kennen wir uns ja selber aus: Die Probleme, deretwegen Menschen Beratungsstellen aufsuchen
oder Seelsorge in Anspruch nehmen, die Schwierigkeiten, die auch unseren eigenen Alltag und unsere Biographie am stärksten beeinflussen, und unser Lebensgefühl entscheidend mitbestimmen, haben mit Erfahrungen zu tun, in denen es um Einschränkungen unserer Freiheit oder um die Gefährdung oder den Verlust von Liebe geht. Und wir können dauerhaft weder auf das eine noch auf das andere verzichten, weil uns unser Leben sonst nicht als lebenswert erscheint und wir das Gefühl für unser Leben verlieren.
Mit der Freiheit kommt das Grundgefühl der Weite in unser Leben, die innere Gewissheit, dass uns in unserem Leben etwas erwartet, dass es hinterm Horizont weiter geht, dass unser Leben nicht stagniert, dass uns viele Wege offen stehen, dass unsere Lebensumstände, wie sie sich uns zur Zeit auch darstellen mögen, nicht eingefroren sind. Und mit der Erfahrung, dass wir Zuwendung gewähren und empfangen können, kommt Tiefe in unser Leben; ein Leben ohne solche Begegnungen, in denen wir Anerkennung erfahren – und erleben, dass wir erwünscht und gewollt sind und erwartet werden und in dem wir selber spüren, wie schön es ist, etwas mit anderen zusammen zu tun, uns hinzugeben, zu lieben
– ein Leben ohne alles das wäre ein flaches Leben, in das man sich einfach nicht hineinwerfen kann, ohne sich fürchterlich weh zu tun. Deshalb ist es verständlich – und in gewissem Sinne „natürlich“, das heißt auf die Natur des Menschen abgestimmt –, dass Jesus die Erfahrung gewährter und empfangener Liebe zum wichtigsten Punkt seiner Religion erklärt. Und dass er behauptet, dass Gott in dieser Sache auch nur ein Mensch ist – bzw. dass es dem Menschen in dieser Sache wie Gott geht.

4. DIE SELBSTLIEBE ALS QUELLE LEBENDIGEN WASSERS?
Die Liebe als das höchste Gebot einer Religion? Also geht es beim Glauben doch wieder nur um etwas Schwieriges, was wir eigentlich nicht gut können – aber worum wir uns als Christen trotzdem kümmern müssten?
Ohne Aussicht auf Erfolg? Um etwas also, was uns unser Lebensgefühl letztlich doch nur verderben kann? Das ist ja gerade die allseits gefürchtete und doch allenthalben kultivierte Sisyphusarbeit vieler frommer Menschen, dass sie sich enorm anstrengen, um den Ansprüchen ihrer Religion gerecht zu werden, ohne selbst etwas davon zu haben, um sich dann im Gottesdienst auch noch sagen lassen zu müssen, es sei immer noch zu wenig. Wie soll da Leidenschaft aufkommen für das eigene Leben?
Das ist der Erfahrungshintergrund jenes Pharisäers, der Jesus – wie wir in der Evangelienlesung1 gehört haben – mit der Frage konfrontiert, was denn nun das Wichtigste an seinem Verständnis von Religion sei. Wir haben die Antwort noch im Ohr: Gott und den Nächsten lieben – und dabei den Maßstab der Selbstliebe zugrunde legen. Es gibt kein höheres Gebot.
Dass der Pharisäer sofort und anscheinend erleichtert zustimmt, hängt damit zusammen, dass ihm endlich etwas nahegelegt wird, was ihn nicht überfordert, etwas worauf er sich versteht: Auf die Liebe und die Selbstwertschätzung. Das mittelalterliche Dogma über den permanent in sich selbst verkrümmten Menschen, der von sich aus nicht lieben kann und so lange zu einer skrupellos egomanischen Existenz verdammt ist, bis er sich endlich zum christlichen Glauben bekehrt, ist ihm noch fremd. Er bedarf auch noch keiner Aufklärung seitens der modernen Neurobiologie, die nachzuweisen vermag, dass die Erfahrung von geschenkter und gewährter Liebe – ja, allein schon die Aussicht auf diese Erfahrung – die stärkste Motivation des Menschen ist. Und er braucht auch noch keine Nachhilfe in Fragen der Selbstliebe; denn die galt zu seiner Zeit als eine selbstverständliche, hochgeschätzte Tugend und Kunst.
Wir haben da als Christen so einiges im Gepäck, vor allem im Blick auf die in der Frömmigkeitsgeschichte unserer Religion verbreitete Diffamierung der Selbstliebe, gepaart mit einer Pseudokultur der Selbstvergessenheit, die in scheinbar schönen Sätzen Irrlehren über den Menschen und den Sinn der Nachfolge in Umlauf gebracht hat: „Nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe. ...“ Na schön, aber nicht einmal Gott mutet sich das zu, nach allem, was man sich so von ihm erzählt innerhalb und außerhalb der Bibel. Und wir wollen von solchen Maximen unser Lebensgefühl bestimmen lassen?
Fühlt sich diese Haltung nicht schrecklich an, die wir einnehmen, wenn wir sagen, gut und gerne auf Zuwendung verzichten zu können, da wir sie ja sowieso nicht verdient hätten? Gehen wir in Sachen Nächstenliebe wirklich gern in die Vorleistung, weil Menschen – die anderen natürlich – das so nötig haben? Und wie fühlt es sich an, sich immerzu sagen zu müssen, bestenfalls trotzdem geliebt zu werden, weil ein ehrlicher Christ, Sünder von Natur, an sich nichts Liebenswertes finden könne? Wie stünde es um ihr Lebensgefühl, wenn Ihnen ihr Partner gestehen würde, dass er Sie nur „trotzdem“ liebte, da Sie an sich nichts Liebenswertes hätten. ... Sehen Sie: Und Gott trauen sie das zu? Jemanden, der einen nur „trotzdem“ liebt, den kann man letztlich nicht wirklich lieben. Dem kann man auch nicht glauben.
Den wird man im Grunde seines Herzens dafür hassen – was nicht gerade zur Steigerung eines guten, vertrauensvollen Lebensgefühls beiträgt. Wir leben in einer Zeit, in der die Beziehungsprobleme, mit denen sich Menschen konfrontiert sehen, in starkem Maße mit einer verloren gegangenen Selbstliebe zusammenhängen. Viele Menschen sind ohne Rücksicht auf sich selbst bereit, alles Mögliche zu tun, um einen Job zu ergattern und dadurch Anerkennung zu erfahren; und die, die Arbeit haben, sind willens, ihre Belastungsgrenzen zu ignorieren und sich den Zwängen anonymer technokratischer Verwaltungsapparate zu opfern. Jeder von uns, so denke ich, könnte eigene Versionen einer vernachlässigten Selbstliebe hier anfügen.
Nachdem die Version der Samaritanerin zur Sprache gekommen ist, richtet sie eine seltsame Bitte an Jesus: „Kannst du“, fragt sie ihn, „die Quelle des Lebens, von der du sprichst, nicht in mich hinein verlegen, damit ich nie wieder diesen elenden Durst verspüren muss, den alle Brunnen der Welt nicht stillen können?“ – Jesus entgegnet ihr: „Da hast du etwas Wichtiges erkannt: Es kommt nicht auf das Aufsuchen der richtigen heiligen Orte an, sondern – bildhaft ausgedrückt – du kannst von der in dir selbst verlegten Quelle der Liebe schöpfen, die aber ohne Selbstliebe nicht anzuzapfen ist.“ – Aber das ist ja nun Geschichte. Die Quelle hat zu sprudeln begonnen. In diesem Gespräch ist etwas geschehen. Jesus hätte an dieser Stelle auch einen seiner Lieblingssätze sagen können: „Dein Glaube hat dir geholfen!
Dein Vertrauen, dich den anderen und Gott zuzumuten so wie du bist, in der Überzeugung, dass das keine Zumutung ist.“
Glauben heißt dann auch, darauf zu bestehen oder darum zu ringen, aus einer Beziehungswirklichkeit heraus zu leben, in der ich mich ganz dem anderen zuwenden kann, ohne mir dabei den Rücken zuzukehren, in der ich ganz bei dem andern und ganz bei mir selbst sein kann. Der vielzitierte Glaubenskampf ist dementsprechend kein Um-Sich-Werfen mit Satzwahrheiten; er betrifft das Eröffnen, Bleiben, Pflegen und leidenschaftliche Verteidigen der Beziehungen, in denen wir Liebe gewähren und empfangen.

5. FREIHEIT ALS ZIEL DER NACHFOLGE
Das alles gilt in entsprechender Weise für den Erfahrungsbereich der Freiheit, sowohl im Blick auf die Hypotheken eines leidenschaftlichen Lebens als auch hinsichtlich der Funktion unseres Glaubens. Der christliche Freiheitsbegriff ist immer wieder auf die Freiheit von Sünde, Tod und Teufel fixiert worden, bestenfalls noch auf die Freiheit von Schuldgefühlen. Seit der Reformation sind die Wünsche und das Wollen eines Menschen aus dem Freiheitsbegriff weitgehend herausdividiert worden; und es gilt geradezu als Zeichen christlicher Nachfolge, etwas zu tun, was man an und für sich nicht will – sich also selbst zu übergehen. Ein gutes Lebensgefühl, dem wir vielleicht sogar das Prädikat „glücklich“ verleihen, hängt aber nun einmal davon ab, dass unser Tun dem entspricht, was wir wirklich für erstrebenswert halten, und dass unsere Entscheidungen in einem Zusammenhang stehen mit dem, was uns im Innersten bestimmt und bewegt. Nur dann können wir leidenschaftlich dabei sein.
Denn was wir nur tun, weil uns nichts anderes einfällt, tun wir aus Verlegenheit oder vergessen es u. U., bevor wir dazu kommen, es zu tun. Was wir tun, obwohl wir zu dem Urteil gelangt sind, dass dieses Tun nicht zu unserem Denken und Empfinden passt, tun wird mit dem Gefühl eines Zwangs oder mit dem dumpfen Gefühl des Befremdens – so als wären nicht wir es, die das tun. Was wir nur deshalb tun, weil es uns als vernünftig erscheint, tun wir immerhin mit Bedacht. Aber was wir tun, weil es uns im Innersten dazu bewegt und unserer Überzeugung entspricht, dem geben wir gern die ganze Kraft unseres Willens, tun es leidenschaftlich – und erfahren uns dabei als freie Menschen.
Dieser Zusammenhang soll durch den Glauben nicht außer Kraft gesetzt und einem imaginären Willen Gottes geopfert werden. Ein Glaube, der unsere Freiheit stärken soll, muss sich auch in existenzbestimmenden Gefühlen äußern, die unser Wollen, Entscheiden und Handeln begleiten. In den Glaubensgeschichten des Alten und Neuen Testaments wird die Lebenstauglichkeit des Glaubens gerade daran festgemacht, ob dieser Glaube
auf die Erfahrung der Freiheit durchschlägt, sich also in befreienden Gefühlen äußert oder nicht: Wenn Glaube mit einem Verantwortungsgefühl verbunden ist und einen Menschen dazu befähigt, sich ein eigenes Urteil zu bilden und sich daran zu binden; wenn Glaube im Gefühl der Hoffnung und des Mutes Gestalt gewinnt und ein Mensch sich in eine eigene Entscheidung hineinstellen kann, wenn sich Glaube im Gefühl der Dankbarkeit äußert und zu leidenschaftlicher Hingabe führt, wenn Glaube eine Spur hinterlässt im Erwartungsgefühl eines Menschen und ihn neugierig macht auf sein Leben – dann erst kann uns dieser Glaube auch auf dem Weg in ein leidenschaftliches Leben begleiten.
Die samaritanische Frau hat schnell verstanden, dass der Weg der Nachfolge mitten in das eigene Leben hineinführt und keine Konkurrenzveranstaltung zu einem leidenschaftlichen Leben ist. Sie schließt sich der Wandergruppe der Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht an; sie geht in ihr Leben zurück und ordnet es neu. Sie kommt endlich in ihrer Gegenwart an; sie sehnt sich weder nach früheren Zeiten, noch muss sie gedanklich in die Zukunft flüchten, um die Gegenwart zu ertragen. Die Gegenwart ist wieder ihre Zeit. Sie ist wieder ganz da. Die Leidenschaft ist in ihr Leben zurückgekehrt. „Ihr Glaube hat ihr geholfen!“
Kleinglaube ist demnach nicht das Gegenteil einer protzender Gewissheit, die bereit ist, gegen die Naturwissenschaften zu wetten. Kleinglaube ist das Misstrauen in den eigenen Glauben mit seinen vorsichtigen Ahnungen, zarten Hoffnungen und seiner manchmal noch zögernden Vorfreude. Also lassen Sie sich Ihren Glauben nicht klein reden. Und glauben Sie nichts, was Sie weder in der Liebe hält noch in der Freiheit bewahrt. Machen Sie sich nicht einen Glauben zu eigen, der Ihnen nicht zutraut, Liebe zu schenken und zu empfangen, oder der Ihnen das Recht verweigert, mit jedem Schritt, den Sie aus Glauben tun, einen Schritt in die Freiheit zu gehen.
Andernfalls fallen Sie nicht vom Glauben ab; sondern ein solcher Glaube fällt – hoffentlich – von Ihnen ab.
Amen.