1. PROLOG: GLAUBEN – EIN GUTES GEFÜHL
FÜR DAS EIGENE LEBEN
Die am häufigsten gestellte Frage
ist die Frage nach unserem Ergehen. Wo immer sich Menschen begegnen und
sich grüßen, ist Zeit für diese anscheinend wichtige Frage:
„Wie geht es dir?“
Diese Frage betrifft nicht nur unseren
Gesundheitszustand oder unsere geistige Tageskondition, sondern ganz allgemein
unser Lebensgefühl. Von diesem Gefühl hängt es nämlich
ab, wie wir uns in unserem Leben überhaupt fühlen, ob wir es
schätzen oder ob wir es leid sind, ob wir leidenschaftlich leben oder
ob wir uns wie in einer fremden Welt vorkommen – als wären wir sozusagen
nur zu Besuch in unserem Leben. Unser Lebensgefühl spielt also eine
entscheidende Rolle bei der subjektiven Bewertung unseres Lebens. Es ist
eine Art „gefühltes Fazit“ im Blick auf unser Dasein. Ob wir es gut
finden oder schlecht, wird in unserem Lebensgefühl manifest.
Deshalb ist uns unser Lebensgefühl
auch nicht gleichgültig. Im Gegenteil: Alles, was wir tun und lassen,
alles was durch uns oder mit unserer Beteiligung geschieht, soll sich natürlich
auch positiv auf unser Lebensgefühl auswirken. Das setzt voraus, dass
wir gern tun, was wir tun, dass es unserem Willen entspricht, dass wir
es aus Liebe tun, leidenschaftlich – jedenfalls nicht gegen besseres Wissen
oder gegen unsere Überzeugung oder aus Angst. Wir wissen, dass sich
unser Lebensgefühl dann prompt verschlechtert. Es ist kein Zufall,
dass die Frage nach dem Ergehen in unseren Begrüßungsritualen
immer wieder aufscheint – auch wenn wir auf die Frage „Wie geht’s?“ in
der Regel keine ausführliche Schilderung einer momentanen Befindlichkeit
erwarten; wir sind eher überrascht, wenn jemand den Hintersinn dieser
Frage ernst nimmt und die Gelegenheit nutzt, sich einmal auszusprechen.
„Wie geht’s dir mit deinem Leben?“ Diese
Frage hat eine scheinbar passive Komponente: „Wie geht es dir?“ Das hört
sich so an, als komme unser Leben halt einmal so und einmal so daher, was
dann dazu führte, dass es uns einmal so und einmal so erginge. „C’
est la vie“, sagt man in Frankreich. „Das ist das Leben!“ Es kommt wie’s
kommt. Dabei wissen wir schon: Unser Lebensgefühl ist kein Sechser
im Lotto; es hängt in starkem Maße auch von uns ab – davon zum
Beispiel, wie wir auf bestimmte Lebensumstände
reagieren, sie mögen sein, wie sie
wollen. Sogar im Gefängnis können Menschen sich in ihrem eigenen
Leben gut fühlen, zu Hause sein, große Freiheit erfahren und
tiefe Liebe empfinden – wie der Brief von Paulus an die Philipper oder
die Briefe aus dem Gefängnis von Rosa Luxemburg zeigen.
Nun könnte man sagen: Rosa und Paul
haben ja schließlich ihren Glauben. Aber so einfach ist es nicht.
Viele Menschen, die von sich sagen können, zu glauben, können
nicht zugleich von sich sagen, dass sie gerne lebten oder ein gutes Lebensgefühl
hätten. Oftmals scheint der Glaube – etwa an ein späteres besseres
Leben – geradezu ein erhoffter Ersatz für ein sich heute gar nicht
gut anfühlendes Leben zu sein.
Es hängt für unser Daseinsgefühl
anscheinend einiges davon ab, ob wir uns – soweit wir über unseren
Glauben überhaupt nachdenken – einen Glauben aneignen, der uns darin
unterstützt, leidenschaftlich zu leben, oder ob wir uns mit einem
Glauben herumschlagen, der sich auf das Für-Wahrscheinlich-Halten
möglichst unwahrscheinlicher Dogmen beschränkt, die für
unser Lebensgefühl gar nichts abzuwerfen scheinen – oder an denen
unser Lebensgefühl sogar Schaden nehmen kann.
In der Glaubens- und Theologiegeschichte
des Christentums hat es immer wieder Phasen gegeben, wo das Festhalten
an Gewissheiten und Wahrheiten zum Kern des Glaubens erklärt wurde.
Die Bibel erzählt aber wesentlich vielfältiger vom Glauben, und
sie erzählt so vom Glauben, dass der Glaube niemals als Selbstzweck
oder ideologisches Besitztum einer religiösen Gruppe erscheint. Es
geht beim Glauben erst recht nicht um eine Kultivierung letzter oder ewiger
Gewissheiten, die man hat, um sich von anderen zu unterscheiden, die diese
Gewissheiten nicht teilen. Der Glaube steht immer im Dienste des Lebens
jetzt und hier. Er ist Mittel zum Zweck. Er soll Menschen bei der Aneignung
ihrer Freiheit beistehen und sie zum Gewähren und Empfangen von Liebe
befähigen. Der Glaube soll Menschen darin unterstützen, ein gutes
Gefühl für ihr Leben zu entwickeln, sich dem Leben ganz zuzuwenden,
es lieben zu können und sich in dieses Leben ohne Angst hineinzuwerfen.
Dazu wird uns im 4. Kapitel des Johannesevangelium
eine bemerkenswerte Geschichte erzählt:
2. EIN GESPRÄCH ÜBER DIE RÜCKKEHR
INS LEBEN
Auf dem Rückweg von Judäa nach
Galiläa kommt Jesus mit seinen Jüngern – so wird erzählt
– um die Mittagszeit in die Nähe der samaritanischen Stadt Sychar
(unweit der heutigen Stadt Nablus). Erschöpft setzt er sich am Jakobsbrunnen
vor den Toren der Stadt nieder. Während seine Schüler in der
Stadt Lebensmittel besorgen, kommt eine Frau zum Brunnen, um Wasser zu
holen. Um diese Zeit, in der größten Hitze des Tages, holt man
eigentlich kein Wasser, es sei denn, man will dort niemanden treffen und
mit sich allein sein. Die Frau hat ihre Gründe. Ihr Leben ist ihr
fremd geworden; es fühlt sich wirklich nicht gut an: Sie ist nicht
mehr Herrin im eigenen Haus. Sie wurde ausgenutzt und fristet ihr Dasein
als Nebenfrau, Geliebte und Mädchen für alles – alles in einer
Person.
Aber nun sitzt da einer – und verwickelt
sie auch noch in ein Gespräch.
Warum hält er nicht einfach den Mund!?
Schließlich gelten die Beziehungen zwischen Juden und Samaritanern
als vergiftet; daran kann man sich doch halten! Wieso ignoriert er alle
Tabus und bittet nun auch noch um Wasser? – Das fragt sich die Samaritanerin
und hält es ihm vor. „Es geht ja auch nicht nur um Trinkwasser, wenn
wir beide hier miteinander reden“, entgegnet Jesus vieldeutig. „Mir jedenfalls
geht es darum, dass Menschen nicht an Lebensdurst zugrunde gehen, dass
sie nicht auf die Erquickungen verzichten, die mit Freiheit und Liebe einhergehen.
Mehr noch: Ich bin überzeugt, dass du jemand bist, aus dem Lebenswasser
für andere hervorquellen kann, und dass du jemand sein kannst, der
sich dabei selber seines Lebens freut. Willst du?“
Es ist fast wie etwa 1750 Jahre zuvor,
bei der Brautwerbung für Jakob; da kam schon einmal eine Frau an diesen
Brunnen und wurde plötzlich von einem Fremden angesprochen. Und es
ging auch um Liebe und Freiheit. – „Willst Du?“, klingt es ihr noch im
Ohr. Natürlich will sie! Aber statt ihr nun weiterzuhelfen, bittet
er sie, sie möge ihren Mann herzuholen. Das bringt sie in Verlegenheit;
denn da kommen mehrere Männer in Betracht. Und was soll diese Frage
überhaupt!? Sie vermutet natürlich, dass etwas mit ihrer Frömmigkeit
nicht stimmt und fragt zögernd zurück, ob man sich – um auf die
richtige Weise religiös zu sein und um an solches Lebenswasser heranzukommen
– an bestimmte Kultorte halten muss. Jesus verneint diese Frage und hält
ihr entgegen: „Das spielt keine Rolle, wenn nur dein Glaube vom Geist der
Freiheit und der Liebe bestimmt ist. Deswegen habe ich dich an deine Männer
erinnert, an deine Unfreiheit, an deinen Mangel
an Liebe, an dein taubes Lebensgefühl.“
Das Gespräch ist noch nicht zu Ende,
da spürt diese Frau, dass ihr Leben sich schon etwas anders anfühlt
als zuvor. Sie freut sich, dass sie da ist. Sie sieht eine Zukunft für
sich, sie spürt, wie sich ihr Leben wieder nach vorn hin öffnet.
Ihre Neugier erwacht. Die Aufmerksamkeit, mit der sie auf ihr eigenes Leben
angesprochen wurde, tut ihr gut. Als sie vom Brunnen weggeht, ist es ihr,
als würde sie erste Schritte in die Freiheit tun; und sie kann sich
selbst wieder leiden. Ihre verloren gegangene Selbstliebe wurzelt wieder.
Der Rest ist schnell erzählt: Sie
kehrt nach Hause zurück. Das heißt – zu Hause hält sie
es vor Glück nicht aus. Sie wirft sich in ihr Leben, indem sie auf
die Straße geht und zur Botin eines leidenschaftlichen Lebens wird.
Sie geht bei ihren Nachbarn vorbei und ruft ihnen zu: „Beeilt euch! Da
draußen am Brunnen vor dem Tore sitzt einer und eröffnet Einsichten
in eine menschliche Religion – und in einen Glauben, der zu einem Leben
in Freiheit und Liebe befähigt. Das muss der Christus sein.“ Sie weiß
vor überströmender Freude und Lebenslust nicht, wohin.
3. FREIHEIT UND LIEBE ALS BEWEGGRÜNDE
DES LEBENS
Was ist hier eigentlich geschehen? Das
Lebensgefühl dieser Frau hat sich grundlegend verändert. Ihr
Glaube hat sich verändert – und ihr Verständnis von Religion.
In der Geschichte von der Begegnung zwischen der Samaritanerin und Jesus
wird erzählt, dass Religion und Glaube für das Leben da sind,
und dass nicht umgekehrt das Leben im Dienst des Glaubens steht. Sogenannte
wahre Religion, wahrer Glaube, erweisen sich darin als wahr, dass sie einem
dabei helfen, ins eigene Lebens hinein zu kommen, dass sie am Leben halten
– dass sie lebensdienlich sind. Und lebensdienlicher Glaube ist nur solcher
Glaube, der in die Freiheit führt und zur Liebe befähigt. Dieser
Glaube wird von Johannes, dem Evangelisten, deshalb mit Wahrheit gleichgesetzt,
weil er die Menschen, die ihn haben, in der Freiheit bewahrt und in der
Liebe hält. Nur der Glaube, der den Menschen in diesem Sinne wahrt,
ist wahrer, das heißt wahrender Glaube. Wahrheit hat mit Wahren und
Bewahren zu tun; deshalb braucht niemand seine Wahrheit zu fürchten.
Und deshalb ist auch diese Frau durchaus nicht frustriert, als sie im Gespräch
mit ihrer Wahrheit konfrontiert wird.
Dass es bei dieser Wahrheit vor allem
um Erfahrungen mit der Freiheit und mit der Liebe geht, ergibt sich zunächst
aus der Geschichte selbst: Was jene Frau bedrückt, sind Erfahrungen
der Unfreiheit einerseits und Erfahrungen
von verweigerter, entzogener oder zerstörter
Liebe andererseits:
Was ihre Unfreiheit betrifft: Das Leben,
das sie lebt, stimmt nicht überein mit dem Leben, dass sie sich wünscht;
sie hat sich – sei es aus Angst, auf Drohungen hin oder aus Bequemlichkeit
– auf Lebensverhältnisse eingelassen, in denen sie sich als unfrei
erfährt. Sie sagt ihren Männern etwas anderes, als sie denkt;
und sie tut Dinge, die sich eigentlich nicht will. Sie wird gelebt. Sie
ist in ihrem eigenen Leben nicht mehr zu Haus. Vielleicht ist das die intensivste
Form der Unfreiheit, die ein Mensch erfahren kann.
Und dann sind da ihre eigentümlichen
Beziehungen, in denen das wechselseitige Gewähren und Empfangen von
Zuwendung zum Erliegen gekommen ist – die Liebe als die wichtigste Ressource
des Menschen. „Liebe“ kann sich in allen möglichen Formen sozialer
Zuwendung äußern, durch die Menschen Aufmerksamkeit und Wertschätzung
erfahren und gewähren: Durch Beziehungen zu Kollegen, zu Freunden,
zur Familie, zum Partner. Im Leben dieser Frau, die sich durch menschenleere
Straßen auf den Weg zum Brunnen macht, herrscht Einbahnverkehr: Sie
gibt alles und es kommt nichts zurück. Und das Traurigste daran: Sie
kann sich auch selbst nicht mehr lieben. Sie hat den Respekt vor sich selbst
verloren. Anfangs hat sie sich noch gefragt, wieso sie das eigentlich mitmacht
mit all diesen Kerlen. Es ist jetzt schon der sechste. Doch irgendwann
hat sie angefangen, deren Gerede zu glauben: „Du taugst halt nichts!“ In
dieser Haltung begegnet sie diesem Mann am Brunnen. Es könnte der
siebte werden, denkt sie für einen Moment, aber dann sagt sie nur:
„Wieso redest du überhaupt
mit mir. Ignorier’ mich einfach. Ich bin
gleich wieder weg.“
Aber wir müssen hier gar nicht weiter
spekulieren. Da kennen wir uns ja selber aus: Die Probleme, deretwegen
Menschen Beratungsstellen aufsuchen
oder Seelsorge in Anspruch nehmen, die
Schwierigkeiten, die auch unseren eigenen Alltag und unsere Biographie
am stärksten beeinflussen, und unser Lebensgefühl entscheidend
mitbestimmen, haben mit Erfahrungen zu tun, in denen es um Einschränkungen
unserer Freiheit oder um die Gefährdung oder den Verlust von Liebe
geht. Und wir können dauerhaft weder auf das eine noch auf das andere
verzichten, weil uns unser Leben sonst nicht als lebenswert erscheint und
wir das Gefühl für unser Leben verlieren.
Mit der Freiheit kommt das Grundgefühl
der Weite in unser Leben, die innere Gewissheit, dass uns in unserem Leben
etwas erwartet, dass es hinterm Horizont weiter geht, dass unser Leben
nicht stagniert, dass uns viele Wege offen stehen, dass unsere Lebensumstände,
wie sie sich uns zur Zeit auch darstellen mögen, nicht eingefroren
sind. Und mit der Erfahrung, dass wir Zuwendung gewähren und empfangen
können, kommt Tiefe in unser Leben; ein Leben ohne solche Begegnungen,
in denen wir Anerkennung erfahren – und erleben, dass wir erwünscht
und gewollt sind und erwartet werden und in dem wir selber spüren,
wie schön es ist, etwas mit anderen zusammen zu tun, uns hinzugeben,
zu lieben
– ein Leben ohne alles das wäre ein
flaches Leben, in das man sich einfach nicht hineinwerfen kann, ohne sich
fürchterlich weh zu tun. Deshalb ist es verständlich – und in
gewissem Sinne „natürlich“, das heißt auf die Natur des Menschen
abgestimmt –, dass Jesus die Erfahrung gewährter und empfangener Liebe
zum wichtigsten Punkt seiner Religion erklärt. Und dass er behauptet,
dass Gott in dieser Sache auch nur ein Mensch ist – bzw. dass es dem Menschen
in dieser Sache wie Gott geht.
4. DIE SELBSTLIEBE ALS QUELLE LEBENDIGEN
WASSERS?
Die Liebe als das höchste Gebot einer
Religion? Also geht es beim Glauben doch wieder nur um etwas Schwieriges,
was wir eigentlich nicht gut können – aber worum wir uns als Christen
trotzdem kümmern müssten?
Ohne Aussicht auf Erfolg? Um etwas also,
was uns unser Lebensgefühl letztlich doch nur verderben kann? Das
ist ja gerade die allseits gefürchtete und doch allenthalben kultivierte
Sisyphusarbeit vieler frommer Menschen, dass sie sich enorm anstrengen,
um den Ansprüchen ihrer Religion gerecht zu werden, ohne selbst etwas
davon zu haben, um sich dann im Gottesdienst auch noch sagen lassen zu
müssen, es sei immer noch zu wenig. Wie soll da Leidenschaft aufkommen
für das eigene Leben?
Das ist der Erfahrungshintergrund jenes
Pharisäers, der Jesus – wie wir in der Evangelienlesung1 gehört
haben – mit der Frage konfrontiert, was denn nun das Wichtigste an seinem
Verständnis von Religion sei. Wir haben die Antwort noch im Ohr: Gott
und den Nächsten lieben – und dabei den Maßstab der Selbstliebe
zugrunde legen. Es gibt kein höheres Gebot.
Dass der Pharisäer sofort und anscheinend
erleichtert zustimmt, hängt damit zusammen, dass ihm endlich etwas
nahegelegt wird, was ihn nicht überfordert, etwas worauf er sich versteht:
Auf die Liebe und die Selbstwertschätzung. Das mittelalterliche Dogma
über den permanent in sich selbst verkrümmten Menschen, der von
sich aus nicht lieben kann und so lange zu einer skrupellos egomanischen
Existenz verdammt ist, bis er sich endlich zum christlichen Glauben bekehrt,
ist ihm noch fremd. Er bedarf auch noch keiner Aufklärung seitens
der modernen Neurobiologie, die nachzuweisen vermag, dass die Erfahrung
von geschenkter und gewährter Liebe – ja, allein schon die Aussicht
auf diese Erfahrung – die stärkste Motivation des Menschen ist. Und
er braucht auch noch keine Nachhilfe in Fragen der Selbstliebe; denn die
galt zu seiner Zeit als eine selbstverständliche, hochgeschätzte
Tugend und Kunst.
Wir haben da als Christen so einiges im
Gepäck, vor allem im Blick auf die in der Frömmigkeitsgeschichte
unserer Religion verbreitete Diffamierung der Selbstliebe, gepaart mit
einer Pseudokultur der Selbstvergessenheit, die in scheinbar schönen
Sätzen Irrlehren über den Menschen und den Sinn der Nachfolge
in Umlauf gebracht hat: „Nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich
liebe. ...“ Na schön, aber nicht einmal Gott mutet sich das zu, nach
allem, was man sich so von ihm erzählt innerhalb und außerhalb
der Bibel. Und wir wollen von solchen Maximen unser Lebensgefühl bestimmen
lassen?
Fühlt sich diese Haltung nicht schrecklich
an, die wir einnehmen, wenn wir sagen, gut und gerne auf Zuwendung verzichten
zu können, da wir sie ja sowieso nicht verdient hätten? Gehen
wir in Sachen Nächstenliebe wirklich gern in die Vorleistung, weil
Menschen – die anderen natürlich – das so nötig haben? Und wie
fühlt es sich an, sich immerzu sagen zu müssen, bestenfalls trotzdem
geliebt zu werden, weil ein ehrlicher Christ, Sünder von Natur, an
sich nichts Liebenswertes finden könne? Wie stünde es um ihr
Lebensgefühl, wenn Ihnen ihr Partner gestehen würde, dass er
Sie nur „trotzdem“ liebte, da Sie an sich nichts Liebenswertes hätten.
... Sehen Sie: Und Gott trauen sie das zu? Jemanden, der einen nur „trotzdem“
liebt, den kann man letztlich nicht wirklich lieben. Dem kann man auch
nicht glauben.
Den wird man im Grunde seines Herzens
dafür hassen – was nicht gerade zur Steigerung eines guten, vertrauensvollen
Lebensgefühls beiträgt. Wir leben in einer Zeit, in der die Beziehungsprobleme,
mit denen sich Menschen konfrontiert sehen, in starkem Maße mit einer
verloren gegangenen Selbstliebe zusammenhängen. Viele Menschen sind
ohne Rücksicht auf sich selbst bereit, alles Mögliche zu tun,
um einen Job zu ergattern und dadurch Anerkennung zu erfahren; und die,
die Arbeit haben, sind willens, ihre Belastungsgrenzen zu ignorieren und
sich den Zwängen anonymer technokratischer Verwaltungsapparate zu
opfern. Jeder von uns, so denke ich, könnte eigene Versionen einer
vernachlässigten Selbstliebe hier anfügen.
Nachdem die Version der Samaritanerin
zur Sprache gekommen ist, richtet sie eine seltsame Bitte an Jesus: „Kannst
du“, fragt sie ihn, „die Quelle des Lebens, von der du sprichst, nicht
in mich hinein verlegen, damit ich nie wieder diesen elenden Durst verspüren
muss, den alle Brunnen der Welt nicht stillen können?“ – Jesus entgegnet
ihr: „Da hast du etwas Wichtiges erkannt: Es kommt nicht auf das Aufsuchen
der richtigen heiligen Orte an, sondern – bildhaft ausgedrückt – du
kannst von der in dir selbst verlegten Quelle der Liebe schöpfen,
die aber ohne Selbstliebe nicht anzuzapfen ist.“ – Aber das ist ja nun
Geschichte. Die Quelle hat zu sprudeln begonnen. In diesem Gespräch
ist etwas geschehen. Jesus hätte an dieser Stelle auch einen seiner
Lieblingssätze sagen können: „Dein Glaube hat dir geholfen!
Dein Vertrauen, dich den anderen und Gott
zuzumuten so wie du bist, in der Überzeugung, dass das keine Zumutung
ist.“
Glauben heißt dann auch, darauf
zu bestehen oder darum zu ringen, aus einer Beziehungswirklichkeit heraus
zu leben, in der ich mich ganz dem anderen zuwenden kann, ohne mir dabei
den Rücken zuzukehren, in der ich ganz bei dem andern und ganz bei
mir selbst sein kann. Der vielzitierte Glaubenskampf ist dementsprechend
kein Um-Sich-Werfen mit Satzwahrheiten; er betrifft das Eröffnen,
Bleiben, Pflegen und leidenschaftliche Verteidigen der Beziehungen, in
denen wir Liebe gewähren und empfangen.
5. FREIHEIT ALS ZIEL DER NACHFOLGE
Das alles gilt in entsprechender Weise
für den Erfahrungsbereich der Freiheit, sowohl im Blick auf die Hypotheken
eines leidenschaftlichen Lebens als auch hinsichtlich der Funktion unseres
Glaubens. Der christliche Freiheitsbegriff ist immer wieder auf die Freiheit
von Sünde, Tod und Teufel fixiert worden, bestenfalls noch auf die
Freiheit von Schuldgefühlen. Seit der Reformation sind die Wünsche
und das Wollen eines Menschen aus dem Freiheitsbegriff weitgehend herausdividiert
worden; und es gilt geradezu als Zeichen christlicher Nachfolge, etwas
zu tun, was man an und für sich nicht will – sich also selbst zu übergehen.
Ein gutes Lebensgefühl, dem wir vielleicht sogar das Prädikat
„glücklich“ verleihen, hängt aber nun einmal davon ab, dass unser
Tun dem entspricht, was wir wirklich für erstrebenswert halten, und
dass unsere Entscheidungen in einem Zusammenhang stehen mit dem, was uns
im Innersten bestimmt und bewegt. Nur dann können wir leidenschaftlich
dabei sein.
Denn was wir nur tun, weil uns nichts
anderes einfällt, tun wir aus Verlegenheit oder vergessen es u. U.,
bevor wir dazu kommen, es zu tun. Was wir tun, obwohl wir zu dem Urteil
gelangt sind, dass dieses Tun nicht zu unserem Denken und Empfinden passt,
tun wird mit dem Gefühl eines Zwangs oder mit dem dumpfen Gefühl
des Befremdens – so als wären nicht wir es, die das tun. Was wir nur
deshalb tun, weil es uns als vernünftig erscheint, tun wir immerhin
mit Bedacht. Aber was wir tun, weil es uns im Innersten dazu bewegt und
unserer Überzeugung entspricht, dem geben wir gern die ganze Kraft
unseres Willens, tun es leidenschaftlich – und erfahren uns dabei als freie
Menschen.
Dieser Zusammenhang soll durch den Glauben
nicht außer Kraft gesetzt und einem imaginären Willen Gottes
geopfert werden. Ein Glaube, der unsere Freiheit stärken soll, muss
sich auch in existenzbestimmenden Gefühlen äußern, die
unser Wollen, Entscheiden und Handeln begleiten. In den Glaubensgeschichten
des Alten und Neuen Testaments wird die Lebenstauglichkeit des Glaubens
gerade daran festgemacht, ob dieser Glaube
auf die Erfahrung der Freiheit durchschlägt,
sich also in befreienden Gefühlen äußert oder nicht: Wenn
Glaube mit einem Verantwortungsgefühl verbunden ist und einen Menschen
dazu befähigt, sich ein eigenes Urteil zu bilden und sich daran zu
binden; wenn Glaube im Gefühl der Hoffnung und des Mutes Gestalt gewinnt
und ein Mensch sich in eine eigene Entscheidung hineinstellen kann, wenn
sich Glaube im Gefühl der Dankbarkeit äußert und zu leidenschaftlicher
Hingabe führt, wenn Glaube eine Spur hinterlässt im Erwartungsgefühl
eines Menschen und ihn neugierig macht auf sein Leben – dann erst kann
uns dieser Glaube auch auf dem Weg in ein leidenschaftliches Leben begleiten.
Die samaritanische Frau hat schnell verstanden,
dass der Weg der Nachfolge mitten in das eigene Leben hineinführt
und keine Konkurrenzveranstaltung zu einem leidenschaftlichen Leben ist.
Sie schließt sich der Wandergruppe der Jüngerinnen und Jünger
Jesu nicht an; sie geht in ihr Leben zurück und ordnet es neu. Sie
kommt endlich in ihrer Gegenwart an; sie sehnt sich weder nach früheren
Zeiten, noch muss sie gedanklich in die Zukunft flüchten, um die Gegenwart
zu ertragen. Die Gegenwart ist wieder ihre Zeit. Sie ist wieder ganz da.
Die Leidenschaft ist in ihr Leben zurückgekehrt. „Ihr Glaube hat ihr
geholfen!“
Kleinglaube ist demnach nicht das Gegenteil
einer protzender Gewissheit, die bereit ist, gegen die Naturwissenschaften
zu wetten. Kleinglaube ist das Misstrauen in den eigenen Glauben mit seinen
vorsichtigen Ahnungen, zarten Hoffnungen und seiner manchmal noch zögernden
Vorfreude. Also lassen Sie sich Ihren Glauben nicht klein reden. Und glauben
Sie nichts, was Sie weder in der Liebe hält noch in der Freiheit bewahrt.
Machen Sie sich nicht einen Glauben zu eigen, der Ihnen nicht zutraut,
Liebe zu schenken und zu empfangen, oder der Ihnen das Recht verweigert,
mit jedem Schritt, den Sie aus Glauben tun, einen Schritt in die Freiheit
zu gehen.
Andernfalls fallen Sie nicht vom Glauben
ab; sondern ein solcher Glaube fällt – hoffentlich – von Ihnen ab.
Amen.
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